«Die Demonstrationsfreiheit wird gerne überinterpretiert»

Polizeirechtsexperte Markus Mohler lobt die Arbeit der Berner Polizei. Wenn es brenzlig werde, könnten trotzdem Fehler passieren. Die internationale Kritik am mangelhaften Rechtsschutz teilt er nicht.

Interview: Simon Gsteiger

Herr Mohler, das Thema Polizeigewalt wird in der Schweiz kaum erforscht. Warum?
Ein breit angelegter Bedarf nach Forschung ist offenbar nicht da. Das hat auch mit dem Behördenvertrauen zu. Die Polizei steht in der Schweiz diesbezüglich ungebrochen an der Spitze.

Das widerspricht zumindest in der Stadt Bern aber der Wahrnehmung. Woher rührt diese Diskrepanz?
Man muss die öffentliche und die veröffentlichte Meinung auseinanderhalten. Was in den traditionellen und den sozialen Medien veröffentlicht wird, gibt manchmal ein ganz anderes Bild ab, als es in Wirklichkeit ist. In Bern hat man mit der Reithalle einen permanenten Konfliktpunkt. Dadurch dürfte die Wahrnehmung verschoben werden.

Wie steht denn die Kapo Bern im Schweizer Vergleich da?
Nehmen wir das Beispiel Sportveranstaltungen. Bern hat mehrere Eishockey- und Fussballclubs in den obersten Ligen. Das ganze Jahr über finden Veranstaltungen statt, von denen teilweise Gewaltpotenzial ausgeht. Dasselbe gilt für Demonstrationen. Die Kapo ist praktisch wöchentlich gefordert bis zum Äussersten. Aus meiner Sicht machen die ihren Job mit Bravour.

Es gibt auch andere Meinungen: Demonstranten beklagen sich oft über unverhältnismässige Eingriffe.
Die Demonstrationsfreiheit wird gerne überinterpretiert. Manche haben das Gefühl, alles sei erlaubt. Das stimmt nicht. Es gibt Regeln, an die sich alle zu halten haben. Die Veranstaltungen müssen friedlich sein, ohne Gewalt gegen Sachen und gegen Personen. Nur darauf erstreckt sich die Demonstrationsfreiheit. Es gilt auch: nur mit Bewilligung. Halten sich die Personen nicht daran, ist die Polizei nicht nur zum Eingriff befugt, sondern verpflichtet. Hier können physische Konflikte entstehen.

Und es kann zu unverhältnismässiger Gewaltanwendung kommen.
Das ist ja der springende Punkt: Bei jeder Gewaltanwendung ist die Verhältnismässigkeit das Scharnier für die Rechtmässigkeit. Die Grenze ist nicht schon dort überschritten, wo sich die Polizei einem Demonstrationszug in den Weg stellt, weil er von der Route abweicht oder diese Route nicht bewilligt worden ist. Die Polizei hat für die Sicherheit aller zu sorgen. Niemand hat ein Vorrecht auf die Nutzung des öffentlichen Raumes.


Dr. iur. Markus Mohler lehrte an verschiedenen Universitäten; vormals Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt und zuvor Staatsanwalt. (Bild: Archiv/Matthias Willi)

Was ist mit dem Feindbild der «bösen Bullen»? Gibt es diese nicht?
Die Selektionskriterien der Kantonspolizeien sind streng. Alles, was nach Macho klingt, hat von vornherein keine Chance. Falsche Vorstellungen werden den Kandidaten spätestens in der Ausbildung ausgetrieben. Grundrechtsschutz und Ethik sind Prüfungsfächer.

Die Polizei macht also alles richtig?
Natürlich nicht, Fehler werden überall gemacht. Entscheidungen werden innert Minuten, manchmal innert Sekunden getroffen. Die Zeit ist manchmal zu kurz, um alles zu berücksichtigen. Das ist keine generelle Entschuldigung, aber eine Erklärung. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, kann Beschwerde erheben oder Anzeige erstatten.

International steht die Schweiz seit Jahren in der Kritik: Den Beschwerdeinstanzen fehle es an Unabhängigkeit.
Internationale Organisationen machen eine wichtige Arbeit. Sie verstehen für die Beurteilung solch heikler Fragen unser Rechtssystem aber oft ungenügend. Dass man bei der Staatsanwaltschaft Vorbehalte anbringt, verstehe ich ein Stück weit, weil sie eng mit den Polizeien zusammenarbeitet. Aber deren Entscheide lassen sich an die Gerichte weiterziehen, und die Gerichte sind hier unabhängig.

Für die Kapo Bern gibt es auch keine Ombudsstelle. Wäre eine solche nötig?
In diesem Aspekt ist man im Kanton Bern weniger weit als in anderen Kantonen. Die Vorteile einer Ombudsstelle für die ganze Verwaltung sind offensichtlich: Die Stelle ist unabhängig, das Verfahren läuft unkompliziert. Man kann sich eventuell den Gang ans Gericht oder die Anzeigeerstattung sparen.

Sie haben die Totalrevision des Berner Polizeigesetzes juristisch begleitet. Warum wurde der Rechtsschutz nicht geregelt?
Rechtsschutz ist die unverzichtbare Gegenseite zum rechtsstaatlichen Gewaltmonopol. Dazu gab es verschiedene Meinungen: Ich war für eine ausführlichere Regelung des Rechtsschutzes. Die Gegenmeinung hat obsiegt.

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