Oberaargau: Schon der Name ist ein Drama

Über den Oberaargau werden keine Lieder gesungen. Dabei leben in Langenthal und Umgebung nicht nur Rechtsextreme, sondern auch viele vife Patrons, die der Region selbst bei Gegenwind die Stange halten.

«Der Oberaargau wird unterschätzt.»

Simon Kuert ist pensionierte Pfarrer und amtet als Chronist von Langenthal.

Simon Kuert ist pensionierte Pfarrer und amtet als Chronist von Langenthal.

Die Stadt Bern, das Emmental, das Berner Oberland: Im Kanton Bern gibt es Städte und Regionen mit Weltruhm, deren Bewohner erhobenen Hauptes auf ihre Heimat verweisen. Und es gibt den Oberaargau. Im Restkanton geht der Verwaltungskreis gerne mal vergessen. Wird in den Medien von der Gegend berichtet, fallen häufig wenig schmeichelhafte Begriffe wie Niemandsland oder Pampa. Und selbst die Oberaargauer identifizieren sich kaum mit ihrer Region.

Simon Kuert nimmt einen grossen Schluck von seinem Bier. Ihn schmerzt das zweifelhafte Bild, dass sich viele vom Oberaargau machen. Der pensionierte Pfarrer amtet als Chronist von Langenthal und hat auch schon zahlreiche Texte zum Oberaargau verfasst. Für ihn ist klar: «Der Oberaargau wird unterschätzt.» Und zwar von den Auswärtigen wie von den Oberaargauern selber. Wegen des «historischen» Namens realisierten viele nicht einmal, dass der Oberaargau zum Kanton Bern gehöre. Laut Kuert wird der Verwaltungskreis auch etwas stiefmütterlich behandelt, weil es den Bewohnern zuweilen selbst an Identifikation mit der Region fehlt. Kuert will das ändern. Er engagiert sich im Verein Identität Oberaargau. Das Ziel: «Unsere Politiker sollen die Interessen der Region über die Parteiinteressen stellen.»

Er selber ging mit gutem Beispiel voran. Seit SP-Nationrätin Margret Kiener Nellen «seinen» Bundesrat Johann Schneider Ammann wegen der Offshore-Firmen der Ammann-Gruppe «massiv» kritisierte, ist Kuert parteilos. Er kenne die Familie Ammann, sagt er, «das sind bescheidene Leute».

«Bund»-Serie: Regionen des Kantons Bern


Im Kanton Bern traten erst kürzlich wieder Differenzen zwischen Stadt und Land zutage, als über den Kantonsbeitrag an das Tram von Bern nach Ostermundigen abgestimmt wurde. Ab heute blickt der «Bund» vor den kantonalen Wahlen vom 25. März in einer mehrteiligen Serie in verschiedene Landesteile: Berner Jura, Biel-Seeland, Emmental, Oberaargau und Oberland. Das Ziel ist, die Regionen den Leserinnen und Lesern aus Stadt und Agglomeration Bern näher zu bringen. Die Region Bern-Mittelland mit dem Zentrum Stadt Bern wird deshalb bewusst ausgeklammert. (ad)

«Ich wollte, dass Langenthal auf der Landkarte sichtbar wird.»

«Provinzfürst» Stephan Anliker ist Architekt und Verwaltungsratspräsident des SC Langenthal.

«Provinzfürst» Stephan Anliker ist Architekt und Verwaltungsratspräsident des SC Langenthal.

Identität dank Eishockey

Bescheidenheit ist ein Begriff, der im Oberaargau häufig fällt. So auch im Büro von Stephan Anliker, wenn er über die Mentalität der Oberaargauer spricht. Der Corbusier-Sessel und das USM-Möbel verraten es: Anliker ist Architekt. Aber nicht irgendeiner. Mit seinem Unternehmen Ducksch und Anliker hat er die Gegend mitgeprägt. An über 100 Bauten in Langenthal soll er massgeblich mitgewirkt haben. Die NZZ bezeichnete Anliker, der in Zürich durch sein Engagement als GC-Präsident eine gewisse Aufmerksamkeit geniesst, als «Provinzfürsten» – was Anliker nicht sonderlich stört.

Für ihn liegt denn auch eine gewisse Ambivalenz im Begriff der Bescheidenheit. So wünscht er sich, dass die Region mit grösserem Selbstvertrauen auftritt. Als er 2002 in den Verwaltungsrat des SC Langenthal eingestiegen ist, tat er dies weniger aus Interesse am Eishockey, wie er sagt. «Ich wollte, dass Langenthal auf der Landkarte sichtbar wird.» Mit einer gewissen Genugtuung stellt er fest, dass Langenthal inzwischen «ziemlich prosperiert». Dazu beigetragen habe auch, dass sich der Ort seit 1997 auf Bestreben des damaligen Gemeindepräsidenten und heutigen Regierungsrats Hans-Jürg Käser nicht mehr als Dorf, sondern als Stadt bezeichnet.

Nun gut, Langenthal nennt sich Stadt und hat einen Eishockeyverein in der zweithöchsten Liga. Der grosse Run auf die Region scheint dennoch ausgeblieben zu sein. So ist die Leerwohnungsziffer des Oberaargaus eine der höchsten aller Schweizer Bezirke. Tendenz steigend. In Langenthal, Huttwil und vielen anderen Orten im Oberaargau kann man sie betrachten: ausladende Neubausiedlungen, die auch Monate nach der Erstellung mehrheitlich leerstehen. Die Drei-Linden-Siedlung in Langenthal hat es gar schon in den «Blick» geschafft. Das Thema des Artikels: Geistersiedlungen.

«Treue, einsatzfreudige Leute findet man im Oberaargau leichter als in Zürich-Altstetten.»

Flyer-Gründer und Unternehmer Kurt Schär.

Flyer-Gründer und Unternehmer Kurt Schär.

Sie produzieren fleissig

Doch wieso will niemand im Oberaargau wohnen? «Halt», sagt Kurt Schär mit resoluter Stimme, «die Frage ist völlig falsch gestellt.» Wenn schon, müsse man fragen, wieso so viel gebaut worden sei. Denn die Einwohnerzahl sei stabil. «Von einer Abwanderung kann keine Rede sein.»

Schär ist an mehreren Unternehmen im Oberaargau beteiligt – und glühender Verfechter der Region mit «höchster Wohnqualität», «perfekter Arbeitsplatzklimatik», «idealen Verkehrsanbindungen» und «traumhaften Landschaften». Das Treffen findet in der Industriezone von Huttwil in einem überraschend modernen Gebäude statt. Es ist das Werk des «Flyer»-Produzenten Biketec. Schär hat das Unternehmen, das heute rund 200 Mitarbeiter beschäftigt, vor 15 Jahren gegründet. Mittlerweile gehört es aber einem deutschen Unternehmen – und Schär verbinden nur noch Erinnerungen mit der Firma. Weshalb kam er aber überhaupt auf die Idee, eine Fertigungsanlage im abgelegenen Huttwil zu erstellen? Schär lacht. Eine typische Journalistenfrage. «Es gibt auch auf dem Land gute Fachkräfte», sagt er dann. Ausserdem benötige so ein Werk vor allem verlässliche Monteure. «Treue, einsatzfreudige Leute findet man im Oberaargau leichter als in Zürich-Altstetten.»

Zahlen und Fakten: Der Verwaltungskreis

Der Verwaltungskreis Oberaargau umfasst 46  Gemeinden auf 331  km² mit rund 81 000  Einwohnerinnen und Einwohnern. 14,6  Prozent davon haben keinen Schweizer Pass. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) beträgt 4,84  Milliarden Franken; das BIP pro Kopf 60 200  Franken. Rund 53  Prozent aller Beschäftigten sind im Dienstleistungssektor tätig, 40  Prozent im Industriesektor und 7  Prozent in der Landwirtschaft. Die Arbeitslosenquote liegt bei 2,6  Prozent. Im Grossen Rat hat der Oberaargau 12  Vertreterinnen und Vertreter (4 SVP, 3 SP, 2 FDP, je 1 BDP, EVP und EDU). (chl)

Heute beschäftigt die Firma Biketec rund 200 Mitarbeiter.

Heute beschäftigt die Firma Biketec rund 200 Mitarbeiter.

So wie Schär denken viele. Jedenfalls sind im Oberaargau zahlreiche Industriebetriebe angesiedelt. Die meisten in Langenthal – etwa Motorex, Création Baumann, Kadi oder die Ammann-Gruppe. Nicht zuletzt deswegen kann sich die Stadt einen tiefen Steuersatz leisten. Fleissig produziert wird aber in der ganzen Region. Die Heiniger AG in Herzogenbuchsee ist Weltmarktführer für Schermaschinen. Und wenn in Hongkong ein Megakran zum Einsatz kommt, ist die Chance gross, dass er mit Seilwinden-Umlenkrollen der Firma Bunorm in Aarwangen ausgestattet ist. Während im schweizweiten Schnitt 25 Prozent der Erwerbstätigen im Industriesektor arbeiten, sind es im Oberaargau 40 Prozent.

Wer jetzt denkt, von einem grossen Industriesektor profitiere vor allem die SP, der irrt. Aber gewaltig. Bei den Nationalratswahlen 2015 erzielte die Linkspartei knapp 16 Prozent aller Stimmen; die SVP beinahe 40 Prozent. Und die Schweizerische Volkspartei markiert nicht einmal das rechte Ende der Skala. Wer von Huttwil nach Langenthal fährt, kreuzt neben Einfamilienhäuschen und Äckern auch Dutzende Wahlplakate der Pnos. Der Oberaargau ist eine Hochburg der Rechtsextremen und der einzige Wahlkreis, in dem sie bei den Grossratswahlen mit einer eigenen Liste antreten.

«Auch wenn man anderer Meinung ist, hört hier der Dialog nicht auf.»

Der Schriftsteller Pedro Lenz ist in Langenthal aufgewachsen.

Der Schriftsteller Pedro Lenz ist in Langenthal aufgewachsen.

Es gibt Stimmen, die die Stärke der Rechtsextremen für eine unrühmliche Tradition halten. So wurde 1933 etwa der fröntlernahe Bund für Volk und Heimat in Langenthal gegründet. Andere, wie Chronist Kuert, aber auch der Schriftsteller Pedro Lenz, halten die Präsenz der Rechten für Zufall.

Lenz wohnt mittlerweile in Olten, ist aber im Städtchen an der Langete aufgewachsen. Ist er vor den SVP-Wählern geflüchtet? Lenz winkt ab. Der Oberaargau sei schon eine konservative Gegend, sagt er, allerdings seien die Parteigrenzen weniger eng als etwa in der Stadt Bern. «Auch wenn man anderer Meinung ist, hört hier der Dialog nicht auf.» In Herzogenbuchsee hätten sich vor einigen Jahren etwa Leute aus allen Parteien und Schichten zusammengetan, um das Hotel Kreuz vor dem Abriss zu retten. «Auch das ist Oberaagau», sagt Lenz. Es sei aber schon so, fährt er fort, dass man in Langenthal wisse, wer «Zugezogener» und wer «richtiger Langenthaler» sei. Sein Vater, ein gebürtiger Ostschweizer, habe dies stets zu spüren bekommen. «Dabei hat er sein halbes Leben hier verbracht.»

Provinzfürst vs. Provinzliterat

Lenz’ Vater hat in der Porzellanfabrik gearbeitet. Sie ist auch der Grund, wieso der Literat in letzter Zeit wieder häufiger in seiner Heimatstadt anzutreffen ist. Seit die Porzellanfabrik geschlossen wurde – womit 1000 Arbeitsplätze verloren gingen –, ist auf dem «Porzi-Areal» wieder Leben eingekehrt. In Gestalt von Secondhandläden, Werkstätten und Ateliers. Doch wie lange noch? Architekt Anliker – der «Provinzfürst» – hat nämlich das Areal gekauft. Die aktuellen Nutzer fürchten, dass er dem Areal mit renditeorientierten Hochhäusern die Seele rauben wird. Lenz, der sich mit den Nutzern solidarisiert und unlängst an einer Infoveranstaltung auftrat, drückt sich vorsichtiger aus: «Stöffu Anliker will zwar auch das Beste für die Region; wir haben aber unterschiedliche Vorstellungen davon, was das Beste ist.»

Bleibt die Frage, ob es künftig vermehrt Diskussionen über Industriebrachen geben wird. Schliesslich ist die Schweiz wegen hoher Löhne und einem starken Franken für exportorientierte Betriebe ein hartes Pflaster. Vor einem Exodus fürchtet sich im Oberaargau aber niemand. Die Betriebe scheinen gesund. Und wichtiger noch: Viele sind in der Hand von Unternehmern aus der Region, die nicht beim ersten Gegenwind das Weite suchen. Denn obwohl man im Oberaargau keine Lieder über die Heimat singt: Wenn es darauf ankommt, liegt den Menschen ihre Region am Herzen. «Was uns verbindet, ist, dass wir immer vergessen gehen», sagt Lenz.Schon der Name ist ein Drama

Über den Oberaargau werden keine Lieder gesungen. Dabei leben in Langenthal und Umgebung nicht nur Rechtsextreme, sondern auch viele vife Patrons, die der Region auch bei Gegenwind die Stange halten.

Impressum
Text: Fabian Christl
Fotos: Franziska Rothenbühler und Adrian Moser
Umsetzung: Naomi Jones und Nadia Etter

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Text: Fabian Christl
Fotos: Franziska Rothenbühler und Adrian Moser
Umsetzung: Naomi Jones und Nadia Etter

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