Überleben in der heilen Welt

Zwei Dinge einen die Berner Oberländer: die Liebe zu ihrer Heimat und das distanzierte Verhältnis zur Stadt.

Blick vom Metschstand ins Obersimmental – Bern ist weit, weit weg.

Blick vom Metschstand ins Obersimmental – Bern ist weit, weit weg.

Wie weit die Lenk von Bern entfernt liegt, begreift man erst, wenn man dort ist. 85 Kilometer hat man zurückgelegt – gleich viele wie nach Aarau. Anderthalb Stunden war man unterwegs – gleich lange wie nach Zürich. Und der Kanton Bern ist hier, an der Talstation der Betelberg-Bahn, noch nicht einmal zu Ende.

Eine etwas kleinere Strasse führt noch ein paar Kilometer weiter das Simmental hinauf. Wäre jetzt Sommer, könnte man ganz hinten, beim Restaurant Simmenfälle, die Wanderschuhe schnüren und loslaufen. Der Weg führt vorbei an den Sieben Brünnen, wo die Simme aus dem Berg sprudelt. Er führt weiter hinauf, zum Flueseeli, und von dort über Fels und Geröll auf den Wildstrubel. Hier, hoch über der Plaine Morte, beginnt der Kanton Wallis.

Berns Ränder

Im Kanton Bern traten erst kürzlich wieder Differenzen zwischen Stadt und Land auf, als über den Kantonsbeitrag an das Tram von Bern nach Ostermundigen abgestimmt wurde. Nun blickt der «Bund» vor den kantonalen Wahlen vom 25. März 2018 in einer mehrteiligen Serie in verschiedene Landesteile: Berner Jura, Biel-Seeland, Emmental, Oberaargau und Oberland. Ziel dieser Serie ist es, die (Rand-)Regionen den Leserinnen und Lesern aus Stadt und Agglomeration Bern näherzubringen. Die Region Bern-Mittelland mit dem Zentrum Stadt Bern wird deshalb bewusst ausgeklammert. (ad)

«Die Menschen in Bern wollen besser leben. Die Menschen hier oben wollen überleben.»

Nicolas Vauclair, Geschäftsführer der Lenker Bergbahnen.

Nicolas Vauclair, Geschäftsführer der Lenker Bergbahnen.

Die von unten machen die Gesetze

Die Betelberg-Bahn steht noch still, morgens um 7.30 Uhr. Ein einziges Paar Ski steht im Ständer beim Eingang – sie gehören wohl einem Angestellten. In den Büros der Bahnverwaltung ist nämlich schon Betrieb. Geschäftsführer Nicolas Vauclair hat lange Arbeitstage in diesen Wochen. Sein Unternehmen ist abhängig vom Wintergeschäft. Liegt genug Schnee? Scheint die Sonne? Haben die Unterländer Lust auf Skifahren?

Die Lenk Bergbahnen haben im Sommer 35 Angestellte. Im Winter sind es 140. Viele von ihnen sind Landwirte. Sie treiben im Sommer ihr Vieh auf die Alpweiden. Im Tal heuen sie – wenn es sein muss von morgens um 5 bis abends um 10, damit das Vieh im Winter, wenn sie wieder bei der Bergbahn arbeiten, genug zu fressen hat.

Darum dreht sich das Gespräch mit Vauclair. Und auch um die Gäste aus dem Unterland, die stets perfekte Pisten wünschen, aber den Wasserverbrauch der künstlichen Beschneiung kritisieren. Und um die Umweltschützer aus dem Unterland, die wollen, dass die Bahnen mehr auf das Sommergeschäft setzen, sich dann aber gegen Bikestrecken wehren. Und natürlich um die Politiker aus dem Unterland, die Gesetze machen, die vielleicht für die Stadt taugen, aber nicht für die Berge. Schon bald sagt Vauclair diesen Satz: «Die Menschen in Bern wollen besser leben. Die Menschen hier oben wollen überleben.»

Die Wiesen sind der Rohstoff

Vauclair kommt aus Boncourt im Kanton Jura, einem Dorf am äussersten Zipfel der Schweiz, das seit Generationen von zweierlei lebt: der Landwirtschaft und der Zigarettenfabrik. Auch die Lenk lebt von der Landwirtschaft – und einer Fabrik, gewissermassen. Die Fabrik sind die Bergbahnen. Ihr Rohstoff sind die saftig-grünen Wiesen. Sie sind im Sommer schön zum Anschauen und im Winter Unterlage für die Skipisten.

Wenn man auf der Karte von der Lenk aus herauszoomt, erkennt man, dass das Berner Oberland eine Ansammlung von Simmentälern ist. Sie heissen Reichenbachtal, Lauterbrunnental, Kandertal oder Entschligental und gehen alle vom Aaretal ab, in dem sich Flussabwärts immer grössere Zentren aneinanderreihen: Meiringen, Interlaken, Spiez, Thun. Wobei, ob Thun zum Berner Oberland gehört, da gehen die Meinungen auseinander. Doch dazu später.

In all diesen Tälern ist es so wie im Simmental. Die Menschen leben von der Landwirtschaft und vom Tourismus. Der Tourismus lebt von dem Land, das die Landwirte pflegen, und vom Geld, das die Gäste ausgeben. Die Landwirte leben von dem, was Gäste und Einheimische für ihre Produkte zahlen. Aber nicht nur. Sie leben auch vom Staat. Dabei hätten sie mit diesem Staat am liebsten nichts zu tun.

«Es gibt viele schöne Flecken auf der Welt, aber ich möchte nirgendwo anders leben als im Simmental.»

Der Oberländer Landwirt Adrian Bieri arbeitet in einem 70-Prozent-Pensum für einen Futtermittelproduzenten.

Der Oberländer Landwirt Adrian Bieri arbeitet in einem 70-Prozent-Pensum für einen Futtermittelproduzenten.

Als Adrian Bieri die Tür öffnet, hört man aus dem Büro den Drucker rattern. Bieri ist ein typischer Oberländer Landwirt: Morgens und abends geht er in den Stall, dazwischen sitzt er im Büro. Der Agroingenieur arbeitet in einem 70-Prozent-Pensum für einen Futtermittelproduzenten. Er sagt: «Ein Landwirt will seine Arbeit über die Produkte abgelten können. Er will kein Almosenempfänger sein, und schon gar nicht einer, dem man auch noch vorwirft, er vergifte die Umwelt und plage seine Tiere.»

Bieri weiss, dass es ohne Direktzahlungen nicht geht. Kaum ein Bergbauernbetrieb würde überleben, wenn er am Markt bestehen müsste. Die Alpweiden würden verwalden, die Sennhütten verfallen – ein Kulturgut ginge verloren. Deshalb haben die Politiker in Bern entschieden, dass die Bauern Geld dafür bekommen sollen, dass sie die Berge weiterhin bewirtschaften. «Wir Bauern müssen umdenken», sagt Bieri. «Auch eine gepflegte Landschaft ist ein Produkt, das seinen Wert hat.»

Die politischen Verhältnisse im Berner Oberland sind eindeutig. Bei den Nationalratswahlen 2015 hat die SVP in der Verwaltungsregion Oberland zwischen 39 und 59,3 Prozent der Stimmen erhalten. In der Gemeinde Boltigen, wo Bieri wohnt und aufgewachsen ist, waren es 71 Prozent. Auch er ist Mitglied der Volkspartei, sitzt im Gemeinderat, kandidiert bei den Grossratswahlen. Doch der Unterschied zwischen ihm und einem Roger Köppel ist etwa gleich gross wie die Distanz zwischen Boltigen und Zürich.

Die SVP ist im Simmental nicht nur eine politische Kraft. Sie ist Teil des Lebensgefühls. Auf der anderen Seite sind gewisse urbane Phänomene schlicht inexistent. Jugendliche, die sich zusammentun, um gegen «das System» aufzubegehren? Eine kleine Reitschule? Undenkbar. «Die soziale Kontrolle ist hier grösser als in der Stadt», sagt Bieri. «Ich finde das grundsätzlich gut, denn es ist nicht nur eine Kontrolle, es ist auch ein Besser-zueinander-Schauen.»
Wer revoluzzen will, muss also gehen. Zum Beispiel nach Thun. Aber eben, gehört Thun überhaupt zum Oberland? Nein, findet Bieri. «Beim Gwatt, wo die Autobahn über die Kander führt, hört das Oberland für mich auf.»

«Wir Bauern müssen umdenken»

Die SVP ist im Simmental nicht nur eine politische Kraft. Sie ist Teil des Lebensgefühls.

Der Stapi versteht den Reflex

Anruf beim Stadtpräsidenten. Raphael Lanz, ebenfalls SVP, kennt die Frage. «Verwaltungsmässig ist der Fall klar», sagt er. Der Verwaltungskreis Thun gehört zur Verwaltungsregion Oberland. Viele öffentliche Dienstleistungen gibt es nur in Thun. Wer an der Lenk einen neuen Pass braucht, muss dafür nach Thun fahren. Wer seine Parkbusse nicht akzeptieren will, muss in Thun vor Gericht. Doch genau solche Dinge spielen mit, wenn die Oberländer in den Tälern die Thuner zu den Unterländern zählen.

«Ich verstehe, dass es einen Abwehrreflex auslösen kann, wenn Dienstleistungen in Thun zentralisiert werden», sagt Lanz. «Wir möchten nicht den Eindruck erwecken, dass alles nach Thun muss.» Manchmal gebe es dafür aber gute Gründe. «Letztlich profitieren alle, wenn es Thun als Zentrum gut geht.»

Aber eben, gehört Thun überhaupt zum Oberland?

Die Simme fliesst durch das Berner Oberland.

Die Simme fliesst durch das Berner Oberland.

Die Missgunst wäre nicht nötig

In Gesprächen mit Oberländern taucht dieser Widerspruch immer wieder auf: Man ist stolz auf seine Heimat, möchte auf keinen Fall in der Stadt leben. Auf der anderen Seite fühlt man sich «von denen in Bern unten» benachteiligt.

Das Symbol für dieses Gefühl ist das Spital Zweisimmen, dessen Zukunft noch immer ungewiss ist. Bieri, der auch Feuerwehrkommandant ist, nennt als weiteres Beispiel die Grosstierrettung, die fürs ganze Simmental von Thun aus hätte erfolgen sollen. «Wir haben hier einfach andere Verhältnisse als in Bern, auch was die Distanzen angeht. Das ist einigen Leuten nicht bewusst.»

Zuletzt hat das Projekt für ein Tram von Ostermundigen nach Bern dieses Gefühl des Ungerecht-behandelt-Werdens wieder geweckt. Alle vier Oberländer Verwaltungskreise sagten vor anderthalb Wochen Nein dazu, Obersimmental-Saanen mit 65,5 Prozent. «In Bern ersetzt man für viel Geld ein bestehendes Verkehrsmittel durch ein anderes, während bei uns Bahnhöfe geschlossen werden», sagt Bieri. «Das verstehen die Leute nicht.»

Doch er räumt ein, dass diese Haltung auch Ausdruck einer gewissen Missgunst ist. Einer Missgunst gegenüber der Stadt, mit der man lieber nichts zu tun hätte und von der man trotzdem abhängig ist. Einer Missgunst, die nicht nötig wäre. «Die Stadt kämpft mit vielen Problemen, mit denen wir hier Gott sei Dank nichts zu tun haben», sagt Bieri. «Es gibt viele schöne Flecken auf der Welt, aber ich möchte nirgendwo anders leben als im Simmental.»

Das Oberland in Zahlen

Die Verwaltungsregion Oberland umfasst vier Verwaltungskreise und 80 Gemeinden. Auf 2900 km2 leben 211 487 Einwohnerinnen und Einwohner. Es gibt 83 179 Vollzeitstellen. 6,4 Prozent der Beschäftigten arbeiten in der Landwirtschaft, 26,5 Prozent in der Industrie und 67,1 Prozent im Dienstleistungssektor. Alleine 11 Prozent arbeiten im Gastgewerbe – im Gesamtkanton sind es 5 Prozent. 2017 wurden aus dem kantonalen Finanzausgleich 251 Franken pro Kopf ausbezahlt. Im Grossen Rat haben die Wahlkreise Oberland und Thun zusammen 33 Sitze: 13 SVP, 6 SP, 3 FDP, 3 EVP, 2 GLP, 2 EDU, 2 BDP, 2 Grüne. (amo)

Impressum

Text: Adrian M. Moser
Fotos: Franziska Rothenbühler, Adrian Moser und Stefan Anderegg
Umsetzung: Céline Rüttimann

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Text: Adrian M. Moser
Fotos: Franziska Rothenbühler, Adrian Moser und Stefan Anderegg
Umsetzung: Céline Rüttimann

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