Seeland: Nicht normal

Das linke Biel ist das wirtschaftliche Zentrum des Wahlkreises Biel-Seeland. Die zehntgrösste Stadt der Schweiz ist voller Widersprüche und sturer Hoffnung.

Das Hinterland wählt bürgerlich – überrascht aber mit linken Anliegen.

In anderen Grossstädten des Landes wäre Hysterie ausgebrochen. Kein Wunder, bei einem solchen Schnäppchen: «3-Zimmer-Wohnung Nähe Bahnhof und See, mit neuer Küche und schönen Parkettböden» – für «1090 Franken inklusive Nebenkosten». Doch bei der offiziellen Wohnungsbesichtigung an einem der wenigen sonnigen Frühlingsnachmittage gibt es keine hibbeligen Menschen, die sich gegenseitig auf die Füsse stehen und sich die Bewerbungsformulare aus den Händen reissen.

Nur zwei Interessenten lassen sich durch die schöne Wohnung in der Bieler Seevorstadt führen. Die Frau ist «trotz des fehlenden TV-Kabelanschlusses interessiert». Sie wolle sowieso wieder vermehrt Bücher lesen. Sie könne sofort einziehen, sagt der Mann von der Verwaltung. Die Wohnung steht schon einige Zeit leer – wie viele andere Wohnungen in der Innenstadt. Wer kann, lebt oben am Hang. «Seesicht», das ist in Biel so etwas wie ein Fetisch.

Die Leerwohnungsziffer in Biel ist rund dreimal so hoch wie jene in der Stadt Bern – und gar siebenmal so hoch wie in der Stadt Zürich. Überdurchschnittlich viele leere Wohnungen gibt es in Biel bereits seit den 1970er-Jahren.

Berns Ränder

Im Kanton Bern traten jüngst wieder Differenzen zwischen Stadt und Land auf, als über den Kantonsbeitrag an das Tram von Bern nach Ostermundigen abgestimmt wurde. Darum blickt der «Bund» vor den kantonalen Wahlen vom 25. März 2018 in einer mehrteiligen Serie in verschiedene Landesteile: Berner Jura, Biel-Seeland, Emmental, Oberaargau und Oberland. Ziel dieser Serie ist es, die (Rand-)Regionen den Leserinnen und Lesern aus Stadt und Agglomeration Bern näherzubringen. Die Region Bern-Mittelland mit dem Zentrum Stadt Bern wird darum bewusst ausgeklammert.

Chinesischer Einfluss

Damals schlitterte die Uhrenindustrie in eine schwere Krise. Biel verlor fast ein Drittel seiner rund 65’000 Einwohner – und die Zahl hat sich bis heute nie mehr ganz erholt. Aktuell leben 55’000 Einwohner im wirtschaftlichen Zentrum des Wahlkreises Biel-Seeland. Und dem Bevölkerungswachstum der letzten Jahre zum Trotz stehen in den Einkaufsstrassen viele Geschäfte leer. Überall Schilder: «zu vermieten/à louer». Innerkantonal ist die Wirtschaftskraft der Region Biel unterdurchschnittlich. Und unter den grössten zehn Städten der Schweiz ist Biel wirtschaftlich die schwächste. Das zeigt sich auch bei den Steuererträgen der natürlichen Personen. Pro Kopf zahlen die Bieler nicht einmal halb so viel Bundessteuern wie der Landesdurchschnitt. Einer der Gründe: Die vielen günstigen Wohnungen ziehen tendenziell finanzschwächere Zuzüger an.

Bis heute ist zudem die Abhängigkeit von der Uhrenindustrie gross – bei den Firmensteuern, aber auch beim Arbeitsmarkt. Jede zehnte Stelle befindet sich in einer Uhrenfirma. Dass die Luxusgüterbranche traditionell grossen Schwankungen unterworfen ist, macht das Ganze nicht einfacher. In Biel spürt man die Baissen der Weltwirtschaft früher und stärker als andernorts. Und wenn die reichen Chinesen weniger Uhren kaufen, weil die Führung der Einheitspartei der Korruption den Kampf ansagt, dann merkt dies Biel direkt – wie im Vorjahr. Das hat Auswirkungen auf die Arbeitslosen- und Sozialhilfequote. Beide sind überdurchschnittlich hoch.

Biel tickt anders als die restliche Schweiz. Auch politisch.

Der Vorteil knapper Finanzen

Als Arbeiterstadt war Biel bereits links, als die heutigen rot-grünen Hochburgen Bern oder Zürich noch vollständig in bürgerlicher Hand waren. Biel wird auch heute noch links regiert. Die SVP ist aber stärker als in vielen anderen Städten. Und die Bieler Linke mache eine Politik «wie vor 25 Jahren», sagt Benedikt Loderer. Er muss es wissen; der als Stadtwanderer bekannte Architekt und Journalist sitzt für die Grünen seit kurzem im Stadtparlament. Und tatsächlich: Während die Berner Quartiere etwa zu grossen Teilen verkehrsberuhigt sind, haben Autos in weiten teilen Biels freie Fahrt. Doch der massive Widerstand gegen die geplante Autobahn quer durch die Stadt deutet an, dass auch das rote Biel immer rot-grüner wird.

Lex Bienne: Sonderrechte für Frankofone

Der Wahlkreis besteht aus der Stadt Biel und ihren Vororten sowie dem Seeland, das vom Solothurnischen bis an den Neuenburgersee reicht. Jede sechste Person im Kanton lebt im Wahlkreis Biel-Seeland. Jede dritte Person davon lebt wiederum in der Stadt Biel. Bei den Stimmberechtigten ist es nur gut jeder Vierte. Der Grund: der hohe Ausländeranteil in Biel. Gemäss Wahlgesetz hat die frankofone Minderheit in der Stadt Biel Anrecht auf derzeit drei Sitze im Grossen Rat. Insgesamt stehen dem Wahlkreis 26 Sitze zu. 2014 waren die SVP (8 Sitze) und die SP (6 Sitze) die stärksten Parteien.

Rau und urban

Er möge die Bieler Altstadt, sagt Loderer, und zeigt aus dem Fenster seiner Wohnung. «Wo sonst spielen die Kinder mitten in den Gassen Strassenhockey?» Dies sei nur möglich, weil das Geld nicht nach Biel fliesse. «In Zug, Solothurn, aber auch in Bern ist die Altstadt perfekt saniert.» In Biel dagegen wurde kaum etwas gemacht. Gemäss Loderer wurden einzig zwei Altstadthäuser totalsaniert. Die Bieler Altstadt ist deshalb noch immer beinahe im ursprünglichen Zustand; zudem sind die Mietpreise für Wohnungen und Gewerbeflächen immer noch tief.

Und so befinden sich weder Filialen grosser Ketten noch Touristenshops in der Bieler Altstadt. Dafür neben dem Stadttheater auch alternativ angehauchte Ausgehlokale, Afrikaläden und Restaurants. Die Einkaufsstrassen für die Massen befinden sich derweil in den neueren Stadtteilen. Als Folge davon wirkt die Altstadt jedoch trotz der spielenden Kinder oft wie ausgestorben. Auch die grosse Crêperie mitten in der Altstadt ist an diesem Nachmittag beinahe leer. An einem Tisch sitzen drei Austauschschülerinnen, an einem Tisch drei Büezer, die im breiten Bieler Dialekt plaudern. Die Toilette des bemüht auf hip getrimmten Lokals befindet sich im Obergeschoss. Die Treppe dorthin führt an einer kameraüberwachten, samtbezogenen Eingangstür vorbei. Die Bilder mit knapp bekleideten jungen Frauen machen klar: Es ist ein Cabaret. Drinnen in der Männertoilette befindet sich derweil ein Wickeltisch, den Väter sonst häufig vergebens suchen.

Biel ist voller Widersprüche und auch deshalb authentisch. Biel ist liberal und sozial, aber auch rau und und voller Urbanität. Eigentlich genau das, wonach sich viele Grossstädterinnen und Grossstädter sehnen. In Biel hofft man denn auch schon lange auf den Aufbruch. «Eine Stadt bricht auf», betitelte das Schweizer Architekturmagazin «Hochparterre» vor acht Jahren eine Sonderausgabe zu Biel.

Ein Einheimischer sagt es so: «Man ist sei langem überzeugt, dass der Aufschwung kurz bevorsteht – gekommen ist er aber noch nie.» Partiell findet man ihn durchaus – etwa in der Gurzelen. Dort baut der Uhrenhersteller Swatch seinen neuen Hauptsitz in Form eines markten schlauchförmigen Holzbaus des japanischen Stararchitekten Shigeru Ban. Daneben hat die Stadt auf einem von zwei renaturierten Flussarmen der Schüss einen neuen 650 Meter langen Stadtpark angelegt. Am Ufer entsteht ein modernes, aber etwas gesichtsloses Stadtquartier. Doch wenige Meter daneben: eine riesige, als Parkplatz verwendete Kiesfläche und das alte, brachliegende Fussballstadion – derzeit wird es von der Bevölkerung zwischengenutzt. Der FC Biel zog vor zwei Jahren in eine moderne Fussballarena – und ging kurz danach Konkurs. Biel ist anders.

Verkehrskritische Autofahrer

Ganz anders als in Biel ist es wiederum weiter draussen im Wahlkreis Biel-Seeland. Hier ist es meist rural. So auch in Treiten. Die Gemeinde hat zusammen mit Muri die dritttiefste Steueranlage im Kanton. Sie bietet ihren Bürgern aber auch nur wenig. Der Bus fährt seit Jahrzehnten nicht mehr in das gepflegte Dorf mit seinen rund 450 Einwohnern. Die Post schloss vor rund einem Jahrzehnt. Und so blieben auch im Lebensmittelladen nebenan die Kunden aus.

Die Gemeinde betrieb ihn noch zwei Jahre weiter. Doch die Treitener kaufen lieber anderswo ein. Nun ist Treiten ohne Laden. Geblieben ist einzig das der Gemeinde gehörende Restaurant, einige kleine Handwerksbetriebe – und natürlich die Autogarage. «Die Treitener haben sich auf den fehlenden ÖV eingestellt», sagt Gemeindepräsident und Bauer Matthias Schumacher. Sprich, fast alle fahren mit dem Auto – einige mit dem Velo. Daran sei denn auch der Versuch mit einem Rufbus gescheitert.

«Die Treitener haben sich auf den fehlenden ÖV eingestellt»

Doch im autoaffinen Treiten ist der Autoverkehr das grösste Ärgernis. Einzige Forderung an den Kanton für die kommende Legislatur ist denn laut dem Präsidenten auch die «Unterstützung bei der Planung und dem Bau von besseren Veloverbindungen». Rot-grüne Politik? Schumacher ist Mitglied der SVP; der einzige Grossrat aus Treiten ist bei der BDP. Treiten habe sich durch Neuzuzüger verändert, sei offener geworden, sagt Schumacher. Diese lebten «im Neubaugebiet». Gebaut wurde dort seit Anfang der 80er-Jahre. Auch in Treiten läuft die Zeit anders. Und da aus der gemeindeeigenen Kiesgrube noch 30 Jahre lang Geld in die Gemeindekassen fliesst, kann für die Menschen hier alles so bleiben, wie es ist.

Zurück in Biel. Auch dort ist man gerade zufrieden. Im alternativen Lokal Gärbi Breihaus wird vietnamesisches Essen serviert. Das Publikum ist bunt gemischt. Ein älterer Bauingenieur spricht beim Essen davon, dass er seit Jahren Lust habe, wieder mal Cannabis zu rauchen, das dann aber doch nie tue. Dann wird es dunkel. Die Bernerin Milena Patagônia tritt mit selbstdeklariertem «Mundart-Sex-R-’n’-B» auf. Die Konzerteinnahmen gehen an ein geplantes Mädchenhaus. Die kantonale Sozialdirektion wollte dafür bisher kein Geld sprechen. «Politisch ist die Situation derzeit schwierig für solche Anliegen», sagt eine der Organisatorinnen. Doch vielleicht brächten die Wahlen einen Rutsch – nach links. Und so sind die anstehenden Wahlen plötzlich doch noch ein Thema, spätabends beim Bier.

Impressum

Text: Basil Weingartner
Fotos: Adrian Moser, Franziska Scheidegger
Umsetzung: Nadia Etter

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Text: Basil Weingartner
Fotos: Adrian Moser, Franziska Scheidegger
Umsetzung: Nadia Etter

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