Schlüsselregion am Rand

Der frankofone Berner Jura ist zwar sprachlich eine Randregion, nicht aber politisch. Die Regierungsmehrheit im Kanton steht oder fällt mit dem Jurasitz. Nach dem Moutier-Entscheid positioniert sich die Region neu.

Wer in den Berner Jura will, muss durch die Schlucht. Zumindest auf der Hauptverkehrsachse führt kein Weg an der Taubenlochschlucht vorbei.

Oben in d'Orvin kommt man in einer anderen Welt an.

von Simon Thönen

Wer in den Berner Jura will, muss durch die Schlucht. Zumindest auf der Hauptverkehrsachse führt kein Weg an der Taubenlochschlucht vorbei – egal ob auf der neuen Autobahn Transjurane, der alten Strasse oder der Schiene. Während unten der Wanderweg verläuft, der gerne als wildromantisch beschrieben wird, quetschen sich weiter oben verschlungene Kunstbauten mit ihren Viadukten und Tunneln durch die felsige Enge.

Oben kommt man in einer anderen Welt an, nicht bloss weil man hier Französisch spricht. Weite grüne Täler liegen zwischen steilen, bewaldeten Juraketten. Auf den Anhöhen ist die Landschaft auf unspektakuläre Weise sehr schön. Der Winterwanderweg bei Les Prés-d’Orvin etwa führt durch eine – vor kurzem noch verschneite – Hochebene, Baumgruppen und Hecken geben der weissen Fläche Gestalt. Unten in den Tälern, wo die Menschen wohnen und arbeiten, gleichen sich die Kleinstädtchen und Industriedörfer: Oberhalb von Bahnlinie und Strasse liegt das Wohngebiet mit stattlichen Gemeindehäusern und Schulen, die von frühem Wohlstand zeugen. Verlassene Industriegebäude, meist beim Bahnhof, erinnern an die Uhrenkrise, topmoderne Fabriken auf der grünen Wiese stehen für den Wiederaufschwung.

Duell um Regierungsmehrheit

So auch in Saint-Imier. Mit dem Unterschied, dass der seit 1866 ansässige Luxusuhrenhersteller Longines hier sein Fabrikensemble nicht komplett neu gebaut, sondern renoviert und erweitert hat. «Mir gefällt es in dieser ruhigen Region», sagt Alain Meyrat auf der Place du Marché, die gerade lärmig umgebaut wird. Schon Bern wäre ihm «viel zu gross». Meyrat verweist auf seinen französischen Namen. Er ist aber nicht einer der vielen Franzosen, die inzwischen in den Fabriken arbeiten. Seine Vorfahren kamen bereits hierher, als der französische König die Protestanten vertrieb. Der Berner Jura ist, anders als der Kanton Jura, traditionell reformiert. Meyrat wird bei den Wahlen für den SP-Kandidaten Christophe Gagnebin votieren – doch er befürchtet, dass die linke Konkurrenzkandidatur von Maurane Riesen (PSA) letztlich dem SVP-Amtsinhaber Pierre Alain Schnegg nützen wird.

Berns Ränder

Im Kanton Bern traten jüngst wieder Differenzen zwischen Stadt und Land auf, als über den Kantonsbeitrag an das Tram von Bern nach Ostermundigen abgestimmt wurde. Darum blickte der «Bund» vor den kantonalen Wahlen vom 25. März in einer mehrteiligen Serie in verschiedene Landesteile: Berner Jura, Biel-Seeland, Emmental, Oberaargau und Oberland. Mit diesem Beitrag schliessen wir die Serie ab, deren Ziel es war, den Leserinnen und Lesern aus Stadt und Agglomeration Bern die (Rand-)Regionen näherzubringen.

Nach der Uhrenkrise gehts auch im Städtchen St. Imier wieder aufwärts.

«Wir sind voraus, weil wir den Jurakonflikt hinter uns gelassen haben.»

Patrick Tanner, Bürgermeister von St. Imier

Patrick Tanner, Bürgermeister von St. Imier

So klein die frankofone Bevölkerung des Berner Juras im mehrheitlich deutschsprachigen Kanton Bern ist – bei Regierungsratswahlen spielt sie eine Schlüsselrolle: Mit dem verfassungsmässig garantierten Jurasitz steht oder fällt die Regierungsmehrheit. Schon die erste rot-grüne Regierung kam 1986 nur zustande, weil ein Grüner den Jurasitz gewann. Sie fiel vier Jahre später, als der Freisinn den Jurasitz zurückeroberte. Damals hing die bürgerliche Mehrheit zwar nicht nur am Jurasitz. Wohl aber die rot-grüne Regierungsmehrheit von 2006 bis 2016. Erneut bürgerlich ist die Regierung, weil SVP-Mann Schnegg 2016 in einer Ersatzwahl den Jurasitz zurückgewann.
Die spezielle Wahlformel für den Jurasitz, die das Ergebnis im Berner Jura praktisch gleich gewichtet wie jenes im ganzen Kanton, spielte nur ein einziges Mal, 2014, eine Rolle. Doch die Formel dürfte die einzige Chance für SP-Herausforderer Gagnebin sein, den Bisherigen Schnegg zu schlagen. Mit einem guten Resultat im Berner Jura könnte er einen Rückstand im Kanton ausgleichen.

SVP-Amtsinhaber Schnegg und SP-Herausforderer Gagnebin traten am letzten Montag im Weiterbildungszentrum CIP in Tramelan gegeneinander an. Zwischen ihnen stand die junge Maurane Riesen, Kandidatin des Parti Socialiste Autonome (PSA). So frisch und angriffig Riesen auch auftritt, ihre Wahlchance ist gleich null. Eine projurassische Partei kann im Berner Jura nicht die Mehrheit gewinnen, und im restlichen Kanton wird sie kaum Stimmen machen.
Ein Zweikampf Schnegg gegen Gagnebin also. Wer allerdings in Tramelan ein eigentliches Rededuell erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Kontrahenten sind zu stark auf ihre eigenen Rollen als Macher (Schnegg) und Verteidiger des Sozialstaats (Gagnebin) konzentriert. Sichtbar werden immerhin zwei grundverschiedene politische Konzepte. Schnegg ist überzeugt, «dass die Prinzipien der Führung einer Firma auf dem Niveau des Staates angewandt werden können». Er nennt eine Baustelle nach der andern, wo etwas im Argen liege, das er möglichst rasch neu gestalten will – besser, effizienter und kostengünstiger. Sein Auftritt vermittelt Tatkraft, allerdings an der Grenze zur Überheblichkeit und auch mit einer gewissen technokratischen Kälte.

Auch Gagnebin steht dem digitalen Fortschritt positiv gegenüber. Er warnt aber vor drohenden sozialen Verwerfungen, welche der Staat durch eine aktive Politik vermeiden müsse – und plädiert für einen starken Service public und gegen lineare Kürzungen der Staatsausgaben. Er sei nicht dagegen, dass der Staat seine Aufgaben neu gestalte. «Aber der Kanton ist bei seinem sechzehnten Sparpaket in Folge, um sich im Steuerwettbewerb zu verbessern, obwohl man ja weiss, dass am Ende immer Zug gewinnt.» Offen bleibt, ob Gagnebin mit seinem Verzicht auf direkte Attacken gegen Schnegg seiner Rolle als Herausforderer gerecht werden kann.

Tramelan, wo Schnegg-Herausforderer Christophe Gagnebin herkommt, ist eine SP-Hochburg.

Tramelan, wo Schnegg-Herausforderer Christophe Gagnebin herkommt, ist eine SP-Hochburg.

Vielfach gespaltene Region

So wie viele Hügelketten die Täler im Berner Jura trennen, verlaufen auch die Konfliktlinien quer. Die Rechte und die Linke halten sich die Waage, mit leichtem Vorteil für links. Von den 12 Grossratssitzen halten aktuell Rot-grün 6, die Bürgerlichen 5 und die EVP einen. Doch die Linke ist gespalten in die probernische SP und die autonomistische PSA. Das bremst sie, wobei PSA-Kandidaturen in der Vergangenheit SP-Erfolge bei Regierungswahlen keineswegs ausgeschlossen haben. Viel hängt von den Kandidaten und der Mobilisierung des linken und des bürgerlichen Lagers ab.

SVP-Hochburg und SVP-freie Zone

Fest in der Hand der SVP ist das Dorf Corgémont (1700 Einwohner). Im Gemeinderat hat die Partei die absolute Mehrheit, dazu kommen je zwei Vertreter der FDP und einer linken Ortspartei. Etienne Klopfenstein, Bürgermeister, SVP-Grossrat und Mitglied des bernjurassischen Rats, steht im freundlichen grossen Laufstall für seine 45 Kühe. Dass man seine Gemeinde als SVP-Hochburg ausgewählt hat, scheint ihm nicht so recht zu behagen. «Ich habe keine Mühe mit anderen Ansichten», sagt er. Dass die SVP hier so stark ist, könne nicht bloss mit der Bedeutung der Landwirtschaft erklärt werden. Zwar ist Klopfenstein stolz darauf, dass in der Käserei der berühmte Tête de Moine hergestellt wird. Aber Corgémont hat auch industriell viel zu bieten. Unter anderem die Firma Swiss Timing, welche die Zeitmessung für fast alle Olympischen Spiele übernimmt. Wahrscheinlich habe die Position der SVP im Dorf mit der probernischen Haltung der Bevölkerung zu tun, sagt er. «Manche sind glühend probernisch, andere ein bisschen weniger glühend. Ich zähle zu den Glühenden.»

«Manche hier sind glühend probernisch. Ich zähle auch dazu.»

Etienne Klopfenstein, SVP-Grossrat aus Corgémont

Etienne Klopfenstein, SVP-Grossrat aus Corgémont

In Champoz sehen dies einige anders.

Ein durchschossenes Berner Wappen auf einer Scheune in Champoz.

Ein durchschossenes Berner Wappen auf einer Scheune in Champoz.

Gar keine SVP-Vertreter gibt es in der Kleinstadt Saint-Imier, weder in der Exekutive noch im Stadtrat. Interessant ist allerdings, dass die Gemeinde auch keine SP-Hochburg ist wie etwa Tramelan, wo Gagnebin Gemeinderat ist. In Saint-Imier stellt die Alternative régionale & communale (ARC) den Bürgermeister und die absolute Mehrheit in der Gemeindeexekutive. ARC ist aus einer autonomistischen Gruppierung hervorgegangen. Doch als das Volk im Berner Jura 2013 mit über 70 Prozent Nein gegen einen gemeinsamen Kanton mit dem Jura votierte, orientierte man sich neu. «Wir haben den demokratischen Entscheid akzeptiert und beschlossen, uns in anderer Form auf lokaler und regionaler Ebene politisch einzubringen», sagt Bürgermeister Patrick Tanner. «Das hat die Bevölkerung wahrscheinlich geschätzt.»

Zum bitteren Konflikt zwischen SP und PSA sagt Tanner: «Ich hätte es vorgezogen, wenn sie sich auf eine Person geeinigt hätten, die sich Schnegg entgegenstellt.» Allerdings habe ARC als lokale Partei kaum Einfluss auf SP oder PSA. «Sicher haben wir aber eine Länge Vorsprung, weil wir den Jurakonflikt hinter uns gelassen haben.» Das gilt auch für die Zukunft von Saint-Imier in einem Berner Jura nach dem Kantonswechsel von Moutier. Momentan läuft ein Gemeinde-Fusionsprozess an. Glückt die Fusion, wird eine Gemeinde mit rund 10 000 Einwohnern entstehen – mehr, als Moutier als bisher grösste Gemeinde heute hat. Wenn Tanner auf die vielen Projekte zur Entwicklung seiner Uhrenstadt verweist, hat man den Eindruck, dass der Berner Jura durchaus auch ohne Moutier Zukunft hat.

Der Berner Jura in Zahlen: Jeder Zweite arbeitet in Industrie
Im Verwaltungskreis Berner Jura leben 54'000 Menschen. Nach dem Wechsel von Moutier zum Kanton Jura werden es 7500 weniger sein. 48 Prozent der Beschäftigten arbeiten in der Industrie – ein Anteil, der fast doppelt so hoch ist wie im Kanton Bern insgesamt. Die Arbeitslosenquote im Februar lag mit 3,7 Prozent über der kantonalen Quote (2,4 Prozent). 2017 wurden aus dem kantonalen Finanzausgleich 355 Franken pro Kopf bezahlt. Die mittlere Gemeindesteueranlage beträgt 1,87 – weit mehr als der Durchschnittswert von 1,6 im Kanton.

Impressum
Text: Simon Thönen
Bilder: Adrian Moser, Franziska Rothenbühler
Umsetzung: Simon Preisig und Nino Moder

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Text: Simon Thönen
Bilder: Adrian Moser, Franziska Rothenbühler
Umsetzung: Simon Preisig und Nino Moder

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