Der Planet der Waldmenschen

Ob am Lagerfeuer im Bremgartenwald oder beim «mischeln» auf der Gasse: «Chrütli» und seine Kumpels trotzen auch im dritten Winter der Kälte.

Ein weihnächtlicher Besuch im Waldcamp, das selbst aus dem All sichtbar ist.

Die Szene könnte ebenso gut im Fantasy-Epos «Herr der Ringe» spielen: Mit einer zusammengeschnürten Fuhre Holz auf der Schulter hastet Martin «Chrütli» Wyss über das knallgrüne Moos im Bremgartenwald. Trotz der schweren Last weicht er den Tannästen wie im Blindflug aus. Es geht tiefer in den Berner Forst hinein – in eine andere Welt. «Wir leben hier wie auf einem eigenen Planeten», sagt der 46-jährige Wyss. Plötzlich steigt zwischen Baumwipfeln Rauch auf. Ein unverkennbares Zeichen, dass wir das Lager der Berner Waldmenschen erreicht haben. Der Standort in der Nähe des Glasbrunnens ist kein Geheimnis mehr: Die grüne Zeltplache der Lebenskünstler vom Bremgartenwald ist sogar auf Google Maps erkennbar.


Nebel verschluckt die Zivilisation


Unter den grünen Plachen sitzen der bärtige Witold, der Rasta-Mann Mättu und der schmächtige Alain am Lagerfeuer. Sie wärmen an den Steinen ihre in Wollsocken gepackten Füsse. «Mi Scheiche isch letscht Nacht fasch abgfrore», scherzt der 22-jährige Alain. Wyss setzt sich dazu und stopft seine selbst geschnitzte Pfeife. Der «Camp»-Vater durchlebt bereits seinen dritten Winter im «Bremer». Die Kälte sei kein Problem: Die frostigen Nächte verbringen die Männer in ihren Zelten, eingelullt in Militärschlafsäcke und Wolldecken. «Wir frieren fast nie. Ich schlafe sogar nackt», sagt Mättu. «Chrütlis» natürliche Wärmequelle ist Hündin Renja, die bei ihm im Zelt schläft. «Wir haben es gut hier. Im Winter sind wir einfach etwas müder und bleiben mal länger liegen.»

Besonders, wenn wie am Tag zuvor dichte Nebelschwaden das Lager einhüllen. «Man verliert das Zeitgefühl und merkt kaum mehr, wenn der Tag anbricht», erzählt Alain. Das Leben in der «Käseglocke» hat für «Chrütli» seinen ganz speziellen Reiz. Der Nebel verschlucke alle Zivilisationsgeräusche. Man höre so nur noch das «Chräschle» der Tiere.







«Mi Scheiche isch letscht Nacht fasch abgfrore»  –Alain, Waldbewohner

«Mischeln» unter den Lauben

Holzen, feuern, rauchen, schwatzen: Der Tagesablauf der Aussteiger richtet sich auch im Winter ganz dem Lust-Prinzip. Mehrmals pro Woche zieht es die Waldmenschen aber in die Stadt, um zu «mischeln», wie es «Chrütli» ausdrückt. Wyss verkauft auf der Gasse seine Schnitzereien, andere betteln in den Lauben. In der Adventszeit seien die Leute deutlich spendabler. «Unsere Gesellschaft ist nicht total ignorant und vermodert, wie viele denken», sagt Alain. So dauert es oft nur kurze Zeit, bis aufmerksame Menschen oder gar Kinder den Jungs einen heissen Tee, einen Glühwein oder Marroni bringen. Einen Schwatz hier, ein kleines Präsent dort: «Wir erleben viele härzige und spannende Momente auf der Gasse.» Mit ihrer auffälligen Kluft und dem strengen Duft ziehen die Männer aus dem Wald die Blicke auf sich. Negative Reaktionen erhielten sie aber praktisch nie. «Du gruusige Waldmensch», habe ihm einmal eine alte Frau gesagt, erzählt Witold und lacht.

«Chrütlis» Wahlempfehlung

Die letzten Frühling vom «Bund» aufgespürten Waldbewohner sind nach zahlreichen Medienberichten inzwischen stadtbekannt. SP-Gemeinderätin Ursula Wyss etwa erkannte «Chrütli» sofort, als er sie auf der Strasse angesprochen hatte. «Sie ist stehen geblieben, wir haben ein Schwätzchen gehalten», sagt Namensvetter Wyss. Anders reagierte GFL-Stapikandidat Alec von Graffenried. «Als ich ihn grüsste, ignorierte er mich.» Nicht nur deswegen ist von Graffenried bei «Chrütli» unten durch: «Ich unterstütze keinen Bernburger.» «Ds Ursi» hingegen könne man mit gutem Gewissen wählen. Wyss glaubt sogar, «über sieben Ecken» mit der Stapi-Kandidatin verwandt zu sein.

Busse wegen illegaler Siedlung
Das seit 2014 im Bremgartenwald bestehende Zeltlager ist der Burgergemeinde Bern und dem Amt für Wald schon lange ein Dorn im Auge. Wegen Übertretung des Waldgesetzes sind die Bewohner des «illegalen Zeltcamps» im August zu einer Busse von je 800 Franken verurteilt worden. Ihnen droht darum gar eine Gefängnisstrafe. Bis heute habe er jedoch keinen Einzahlungsschein erhalten, sagt Martin Wyss. Auf Anfrage erklärt das Amt für Wald, man prüfe die Situation und behalte sich weitere rechtliche Schritte vor. (amü)

Zurück im Bremgartenwald. Das Lagerfeuer knistert. Witold liest im Schneidersitz ein Buch, Alain nascht ein paar Erdnüsse. «Chrütli» macht Kaffee. Auch im Waldcamp ist das Weihnachtsmenü ein Thema. «Komm, dieses Jahr machen wir einen Coq au vin», schlägt Wyss vor. Es soll wieder einen Festschmaus geben wie letztes Jahr. Damals hatte der Grossvater von Mättu ein Kaninchen spendiert. Seine Mutter besucht ihn mindestens einmal pro Woche im Wald. «Das ist das schönere Facebook hier als im Internet, auch ich fühle mich hier wohl», sagt die Frau, als sie per Zufall im Lager vorbeischaut. Sie scheint gar kein Problem mit der unkonventionellen Lebensweise ihres Sohnes zu haben. Letztes Jahr feierte die Familie von «Chrütli» Weihnachten im Waldcamp, dieses Jahr ist sie in den Ferien. Wyss will dennoch heuer über die Festtage im Zeltlager bleiben. «Wir sind hier eine Art Familienclan, das passt. Auf den Halleluja-Besen kann ich getrost verzichten.»

«Jeder Tag ist hier anders. Die Freiheit ist grenzenlos»

Vom Wald auf das Surfbrett

Die Waldmenschen leben Tag für Tag von der Hand in den Mund, was ihnen nichts auszumachen scheint. Auf ihre Wünsche angesprochen, bleibt die Runde zuerst einmal stumm. Ein paar Ziegel für ein Dach über der Feuerstelle wären nicht schlecht, sagt dann Alain. Einen Ofen zum Brotbacken wünscht sich «Chrütli». Sein tatsächlicher Wunsch geht eine Ebene höher. «Die Leute sollen sich auf das Menschsein besinnen und mehr im Einklang mit der Natur leben. Wir hoffen, einigen Menschen mit unserer Lebensweise die Augen geöffnet zu haben.»
Das tönt alles schön und gut. Aber kommt beim Männerclan nie Lagerkoller auf? Die Freigeister schütteln den Kopf. «Jeder Tag ist hier anders. Die Freiheit ist grenzenlos», heisst es. Und man sitze auch nicht immer nur aufeinander. Mättu zieht es öfters zu seiner Freundin. «Chrütli» etwa geht in den kalten Monaten ein bis zweimal pro Woche abends ins Dead End essen. Für fünf Franken erhalte man dort ein üppiges Menü. «Manchmal ist es schon schön, einfach an der Wärme zu sitzen.»

Denn bis im Wald die Temperaturen wieder steigen, dauert es noch Monate. «Jetzt werden die Tage zumindest wieder länger», sagt er. Wyss will auch 2017 sein Aussteigerleben im «Bremer» weiterführen. Ein klein wenig zieht es «Chrütli» trotzdem weg: Er möchte den Jakobsweg laufen und in Biarritz endlich wieder einmal «ds Surfbrett unger d Füess chlemme».

Text und Video: Adrian Müller
Bilder: Franziska Rothenbühler
Umsetzung: Gianna Blum

Text und Video: Adrian Müller
Bilder: Franziska Rothenbühler
Umsetzung: Gianna Blum

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