Schiessen wie damals

Zu Besuch bei den Schützen des 117. Erinnerungsschiessens in Kirchberg.

Schützenvereine wehren sich gegen die Verschärfung des Schweizer Waffenrechts. Haben sie Erfolg, droht der Schweiz mit der EU neues Ungemach.

Peng! Peng! Peng! Geschossen wird auf Kommando. Zuerst 2 Probeschüsse, danach 1, 2 und 3 Schüsse in einer Minute, zum Schluss dann 6 Schüsse in 90 Sekunden. Es ist Samstagnachmittag, Anfang März, und auf dem Schiessstand Kirchberg im Emmental wird seit 10.15 Uhr scharf geschossen. Es riecht nach Pulverdampf, und weil so ein Sturmgewehr verdammt laut ist, tragen hier ausnahmslos alle einen Gehörschutz. Das 117. Erinnerungsschiessen zur Schlacht beim Grauholz, organisiert von den Burgdorfer Stadtschützen, verläuft reibungslos.

Bevor die Schützen ihre Gewehre auf die 300 Meter entfernten Zielscheiben richten, kontrollieren Männer in gelben Westen am Eingang die mitgebrachten Gewehre. Zugelassen sind ausschliesslich Armeewaffen: das Sturmgewehr 90, sein Vorgänger, das Stgw. 57, und der alte Karabiner 31. Nach dem Zahlen einer Gebühr erhalten die Schützen Standblatt und Munition. Laden werden sie ihre Waffen erst kurz vor dem Schiessen auf der Schiessanlage. Dann heisst es: «Gut Schuss!» Eine elektronische Anlage zeigt den Schützen die Treffer an. Zu gewinnen gibt es Abzeichen, Prämienkarten und Bargeld. Dem Junior mit dem höchsten Resultat winkt ein von der UBS gespendetes Goldvreneli. Peng! Peng! Peng!

«Es trifft die Falschen»

Die militärische Disziplin garantiert einen geordneten Schiessbetrieb. «Einen Unfall hatten wir hier noch nie», sagt Martin Kolb, Präsident der Stadtschützen Burgdorf. Wie jeder hier wird auch Kolb am 19. Mai gegen die Übernahme der EU-Waffenrichtlinie stimmen. Er habe nicht per se etwas gegen Vorschriften, sagt Kolb. Aber hier sei man sich einig: «Die neue Regelung trifft die Falschen.» Denn: «Terrorismus verhindert man so nicht.»

Die EU hat 2013 beschlossen, ihr Waffenrecht zu verschärfen. Unter dem Eindruck der Attentate von Paris hat sie diesen Prozess dann beschleunigt und 2017 die neue Waffenrichtlinie verabschiedet. Weil die Schweiz Mitglied des Schengen-Abkommens ist, muss sie diese Verschärfungen übernehmen. Sportschützen müssten künftig für den Erwerb einer halbautomatischen Waffe, etwa des Sturmgewehrs, belegen, dass sie Mitglied eines Schützenvereins sind, oder nachweisen, dass sie regelmässig schiessen. Obwohl Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) immer wieder betont hat, das Schiesswesen der Schweiz bleibe so unangetastet, glauben ihr die Schützen nicht.

«Entwaffnungsdiktat der EU»

Die Schützen formierten sich: Die Interessengemeinschaft Schiessen Schweiz sammelte zusammen mit der Gesellschaft für ein freiheitliches Waffenrecht Pro Tell innert kürzester Zeit die nötigen Unterschriften für das Referendum. «Freiheitsfeindlich, antischweizerisch, unrecht» sei das «Entwaffnungsdiktat der EU», so die Schützenlobby. Der Präsident der Stadtschützen Burgdorf, Martin Kolb, wählt etwas weniger drastische Worte: «Die Leute haben einfach Angst, dass man ihnen den Sport kaputtmachen will.» Durch die neuen Regelungen würde die Hemmschwelle, in einen Verein einzutreten, höher. «Wir gehen ausserdem davon aus, dass die EU schon bald ihr Waffengesetz noch weiter verschärfen wird», sagt Kolb.

«Die Leute haben einfach Angst, dass man ihnen den Sport kaputtmachen will.»
Martin Kolb – Präsident der Stadtschützen Burgdorf

«Ein Sport wie Fussball»

Aber worin liegt denn eigentlich die Faszination für das Schiessen? Er sei über das Sportliche zum Schiessen gekommen, sagt Organisator Roland Adolf etwas später in der holzgetäfelten Schützenstube vor einem Rivella Rot. Der 41-Jährige arbeitet im Inselspital als Projektleiter und trägt eine Krawatte mit dem Abzeichen der Burgdorfer Stadtschützen. Für diese ist er auch für die Nachwuchsförderung zuständig und organisiert etwa Ferienpass-Anlässe für Kinder. «Ein Feldschiessen ist vom Prinzip her auch nicht anders als ein Schiessen mit Dartpfeilen», sagt er. Es gehe darum, sich mit anderen zu messen. Und wie ein Läufer, der für einen Lauf trainiere, habe auch ein Schütze ein persönliches Bestresultat vor Augen. Statt von Schusswaffen spricht Adolf deshalb konsequent von Schiesssportgeräten. «Wir wollen keine Kämpfer ausbilden. Für uns ist das Schiessen ein Sport wie Fussball oder Turnen», sagt er.

«Vaterländische Gesinnung»

Kaum eine anderer Sportart ist aber derart mit Tradition aufgeladen wie das Schiessen. «Die Pflege der vaterländischen Gesinnung nimmt einen hohen Stellenwert ein», schreiben die Burgdorfer Stadtschützen auf ihrer Internetseite. Auf die Frage, woran genau am heutigen Erinnerungsschiessen denn eigentlich zum 117. Mal erinnert werde, schaltet sich auf der Holzbank in der Schützenstube Adolfs Tischnachbar ein. Denn jetzt geht es nicht mehr um Sport, sondern um Krieg. Und zwar um die Grauholzschlacht von 1798, den Einfall der Franzosen und den Zusammenbruch des Ancien Régime. «Eine Katastrophe» sei das gewesen, so der Rentner, der auch genau weiss, was damals zur Niederlage geführt hat: «Man war sich nicht einig.» Zudem habe eine starke Führerfigur gefehlt, «einer, der sagt, wos langgeht».

Heute, 220 Jahre später, kämpfen die Schützen nicht mehr gegen Napoleon, sondern gegen die EU. Doch für viele ist nicht die EU existenzgefährdend, sondern der zunehmend ausbleibende Nachwuchs. Der «Blick» zitierte letztes Jahr aus einer internen Studie des Schiesssportverbandes: Demnach nahm die Zahl der Jungschützen in den letzten 15 Jahren von rund 13800 auf 9600 ab. Auch auf dem Schiessstand in Kirchberg prägen Männer mit grauen Haaren das Bild. Von den 223 Teilnehmern des Erinnerungsschiessens sind etliche über 80 Jahre alt.

«Das bedeutet mehr Asylbewerber und ein massives Sicherheitsproblem.»
Lorenz Hess – BDP-Nationalrat (BE) und Oberst

Vielen fehlt Bezug zur Waffe

In der mit allerlei Abzeichen geschmückten Schützenstube mutmasst man über die Gründe. Früher habe eben noch so mancher Vater den Sohn mit ans «Obligatorische» genommen. Als Milizsoldat musste er einmal pro Jahr fürs Schiessen antreten. Allgemein sei der Vater als Soldat früher viel präsenter gewesen. «Heute hingegen fehlt vielen Jungen der Bezug zur Waffe», heisst es in der Runde. Tatsächlich geben heute die allermeisten Männer nach dem Dienst ihre Waffe ab. Die Identifikation mit der Armee sinke: «Viele Junge freuen sich heute nicht mehr auf die RS», sagen Schützen.

Für die meisten Schützenvereine begann der Aufstieg Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich in der Schweiz die allgemeine Wehrpflicht durchsetzte. Der neue Staat betraute die Schützenvereine mit der Durchführung des «Obligatorischen», und praktisch jede Gemeinde unterhielt einen Schützenstand. Da Militärpflichtige automatisch in einem Schützenverein Mitglied sein mussten, klingelten bei den Schützenvereinen die Kassen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Schweizer Armee radikal verkleinert. Leisteten 1989 noch 800000 Wehrmänner Dienst in der Armee, so sind es heute noch rund 160000. Als der Bundesrat 1997 die automatische Mitgliedschaft für Armeeangehörige aufhob, verloren die Schützenvereine auf einen Schlag über die Hälfte ihrer Mitglieder. Heute gibt es in der Schweiz nur noch rund 60000 aktive Schützen.

Doch nicht alle Schützen wehren sich gegen das neue Waffenrecht: BDP-Nationalrat und Oberst Lorenz Hess war früher Präsident der Feldschützen Stettlen-Deisswil. Trotzdem hat er für die Revision des Waffenrechts gestimmt. Zwar mit «Zähneknirschen», wie er sagt, doch die Alternative ist für ihn noch viel schlimmer: Wenn die Revision des Waffenrechts an der Urne versenkt werde, sei die Chance real, dass die Schweiz aus Schengen ausgeschlossen werde. «Und das bedeutet letztlich mehr Asylbewerber und ein massives Sicherheitsproblem.» Bei einigen Schützen habe er sich mit dieser Meinung nicht gerade beliebt gemacht, so Hess.

«Es geht um Suizid»

Während Nationalrat Hess mit den Zähnen knirscht, geht das neue Waffengesetz vielen Linken zu wenig weit. Auch deshalb habe sie nicht mit diesem massiven Widerstand der Schützen gerechnet, sagt etwa Ronja Jansen von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee. «Natürlich habe ich mir ein strengeres Gesetz gewünscht, doch es ist ein Schritt in die richtig Richtung.» Für Jansen ist klar: Jede Verschärfung des Waffenrechts bedeutet weniger Tote. «Es geht dabei nicht um Terrorismus, sondern um Suizid», sagt sie und verweist dabei auf eine Studie des Bundesamts für Statistik, in welcher steht, dass der Rückgang von «vollendeten Tötungsdelikten auch mit der verringerten Anzahl Armeewaffen in der Schweizer Bevölkerung zusammenhängen könnte». Andere Studien gehen davon aus, dass sich mit Ausnahme von Finnland in keinem anderen Land in Europa mehr Leute mit Schusswaffen töten als in der Schweiz. Die Hälfte davon mit einer Armeewaffe.

Von solchen Dramen ist am Erinnerungsschiessen in Kirchberg wenig zu spüren. Vor dem Schützenhaus verabschieden sich die Teilnehmer und verstauen die Gewehre im Kofferraum. Eine ältere Frau hat ihr Sturmgewehr 57 gelb angemalt. Daran baumelt ein kleiner Stoffwaschbär als Maskottchen. Sie sei Sportschützin und besuche so viele Schiessanlässe wie möglich, erzählt sie begeistert.

Nach einem letzten Peng! ist es in Kirchberg plötzlich ruhig. Das Feuer wurde ordnungsgemäss um halb vier Uhr eingestellt.

Schützen gefährden Schengen-Dublin

Neben dem Rahmenabkommen könnte bald ein weiterer Konflikt das Verhältnis der Schweiz mit der EU gefährden. Denn am 19. Mai entscheidet das Stimmvolk, ob die Schweiz die neue Waffenrichtlinie der EU umsetzen will. Die Schweiz ist als Mitglied des Schengen-Verbundes verpflichtet, diese Verschärfung umzusetzen. Bei einem Ja müssen künftig alle Bestandteile von bestimmten halbautomatischen Schusswaffen markiert werden. Zudem gelten künftig alle halbautomatischen Gewehre mit Magazinen von mehr als 10 Schuss als verbotene Waffen, für deren Erwerb es eine Ausnahmebewilligung braucht. Nicht betroffen von der Gesetzesänderung sind Jäger und ehemalige Armeeangehörige, die ihre Waffe auch nach dem Dienst behalten möchten.

Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) betonte immer wieder, dass das neue Gesetz die Tradition des Schweizer Schiesswesens nicht antaste. Doch Schützenverbände beurteilten die Situation anders und sammelten Unterschriften für ein Referendum.

Bei einem Nein am 19. Mai würden die Verträge der Schweiz zu Dublin und Schengen enden, es sei denn, die EU-Kommission und alle EU-Staaten kämen der Schweiz entgegen. Der Austritt der Schweiz aus Schengen-Dublin könnte laut dem Bund Kosten von mehreren Milliarden Franken pro Jahr verursachen. Schengen sichert der Schweiz den Zugriff auf das Informationssystem SIS. Täglich erfolgen über 300000 Abfragen von Polizei-, Grenzwacht- und Asylbehörden. Auch vom Dublin-Abkommen profitiert die Schweiz: Tritt sie aus, muss sie künftig Asylgesuche, die bereits in einem anderen europäischen Land gestellt wurden, wieder selber prüfen. Laut Keller-Sutter würde dadurch die Schweiz «sehr attraktiv für Asylsuchende in Europa». (ama)

Text: Andres Marti
Bilder: Adrian Moser
Umsetzung: Marina Stalder

Text: Andres Marti
Bilder: Adrian Moser
Umsetzung: Marina Stalder

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