Und plötzlich diese Rentenfrage

Die erste Generation der Schweizer Tamilen sorgt sich um die Rente – die zweite ringt um ihre Identität.

Moorty und Tharnan Selliah.

Moorty und Tharnan Selliah.

Es sind Wörter wie Klötze. «Ergänzungsleistung» oder «Sozialversicherungsrecht» – unförmig plumpsen sie in die melodiösen Sätze, die Tharnan Selliah in geschmeidigem Tamilisch spricht. Er ist Hindu-Priester im Haus der Religionen am Europaplatz. Nirgends wirkt Bern urbaner als hier. Autobahn, Tramgleis, Untergrund, es ist ein grauer Abend, draussen fliesst der Verkehr, drinnen die spirituelle Energie.

Wild und laut und bunt geht es zu, wir stehen im Eingangsbereich, irgendwie zwischen den Welten, und fragen Tempelgäste nach ihrer Altersvorsorge. Die sperrige Bürokratie hat keine Entsprechungen im Tamilischen, immer wieder fallen die deutschen Begriffe – Zutrauen lösen sie kaum aus. «Viele meiner Kollegen wissen nicht, was auf sie zukommt», sagt Tharnans Vater Moorthy Selliah und zupft an seinem dicken Schal. «Und die wenigsten sind dafür gerüstet.»

54'000 Menschen mit sri-lankischen Wurzeln, die allermeisten von ihnen Tamilen, leben in der Schweiz. 20'000 sind es etwa im Kanton Bern, und rund ein Fünftel von ihnen steuert in diesen Jahren auf den letzten Lebensabschnitt zu – nicht selten mit einer knappen, zu knappen Rente.

Wenn das Einkommen im Alter nicht die minimalen Lebensleistungen zu decken vermag, spricht der Staat von Altersarmut. Ergänzungsleistungen werden fällig, eine Hilfe, die gerade Migranten oft gar nicht in Anspruch nehmen – weil sie nicht davon wissen. «Es gibt ein grosses Informationsdefizit», bestätigt Hildegard Hungerbühler vom Schweizerischen Roten Kreuz im Interview.




«Die zweite Generation erlebt einen ökonomischen Aufstieg»


Ethnologin Hildegard Hungerbühler erklärt, wie sich die tamilische Migrationsbevölkerung entwickelt hat – und wo ihre Informationsdefizite liegen.


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Moritz Marthaler

Wie viel alte Heimat kommt mit?

Rückblick. Es ist ein heftiger Streit, der in den 80er-Jahren um die Insel Sri Lanka entflammt. Tamilische Separatisten kämpfen gegen die singhalesisch dominierte Regierung, das ethnische Zerwürfnis mündet in einem Bürgerkrieg, dem bis zum endgültigen Waffenstillstand 2009 100'000 Menschen zum Opfer fallen. Millionen werden vertrieben.

Auch in Europa kommen Tausende an, ab 1990 erteilt die Schweiz humanitäre Aufenthaltsbewilligungen. Zu Beginn der 90er-Jahre werden pro Jahr um die 7000 Asylgesuche aus Sri Lanka registriert. Die Tamilen sind die ersten Einwanderer mit schwarzer Hautfarbe. Wie verstaubte Relikte wirken die «Tagesschau»-Beiträge aus dieser Zeit, in denen skeptische Schweizer schweigend zu schüchternen Tamilen blicken, die sich vor Langeweile und der Winterkälte in den Berner Bahnhof flüchten.


Bericht über «Tamilische Asylbewerber» im «DRS aktuell» vom 12.3.1984 (Quelle: SRF Archiv)

«Ich dachte, die Schweiz sehe ja ähnlich aus wie Italien», erinnert sich Moorthy Selliah. 1991 fuhr er mit dem Auto von Süden her ein, doch Lugano war nur eine Zwischenstation. Wenig später heuerte er in einem Berner Restaurant als Kellner an. 2000 Franken pro Monat, zwei Kinder, ein paar Brocken Deutsch.

Es sind beschwerliche Jahre für die Ankömmlinge, über denen die Frage schwebt, mit der sich jeder Einwanderer beschäftigen muss: Wie viel alte Heimat soll man mitnehmen, wenn man dabei ist, so richtig in einer neuen anzukommen?

«Ich dachte, die Schweiz sehe gar nicht so anders aus als Italien.»
Moorty Selliah

Bald 30 Jahre später ist Moorthy Rentner und Grossvater, und auch sonst hat sich einiges verändert. Die tamilische Zuwanderung hat massiv abgenommen, 2018 gab es noch knapp 600 Asylgesuche aus Sri Lanka. Die zweite Generation ist da, die Kinder der Geflüchteten sind erwachsen geworden.

Auf der Flucht sind sie nicht mehr, ihre Welt ist nicht mehr die Welt ihrer Eltern. Das schafft Konflikte.


«Meine Generation geht immer noch durch einen Abnabelungsprozess»: Laavanja Sinnadurai. (zvg)

Als Laavanja Sinnadurai sich vor kurzem entschieden hat, alleine in eine Wohnung zu ziehen und das Elternhaus in Niederscherli zu verlassen, hat das für Diskussionen gesorgt. Für Wochen, für Monate. Eine Frau ohne Mann, ohne Familie, alleine unter einem Dach.

«Meine Generation geht noch immer durch einen Abnabelungsprozess», sagt die 29-jährige angehende Anwältin. Draussen wartet das Leben, zu Hause ruft die Tradition.

Generation zwei scheint damit beschäftigt, sich selber zu finden, und nicht alle zeigen sich im Kulturspagat so beweglich wie Tama Vakeesan (siehe Portrait) oder Laavanja Sinnadurai.




Beweglich im Kulturspagat


Moderatorin Tama Vakeesan vereint Fortschritt mit Tradition, ihr Umfeld mit ihrem Elternhaus.


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Moritz Marthaler

Sie hat als bunt bemalte, ausdrucksstarke Performerin diverse tamilische Tanz-Wettbewerbe gewonnen. Daneben die Anwaltsprüfung, das Studium, der eigene Nebenjob und abends die Aushilfe bei der Mutter in deren Arbeit in der Reinigungsbranche.

Die Erwartungen, denen diese zweite Generation gerecht werden muss, können immens sein. «Und dazwischen», sagt Sinnadurai, «zwängt sich jetzt bei vielen diese Rentenfrage.»

Warum ist so wenig Rente da?

Und warum ist denn jetzt so wenig Rente da? Gerade zu Beginn flohen hoch qualifizierte Fachkräfte in die Schweiz, erst die Nullerjahre brachten dann auch Arbeitsmigration aus Sri Lanka. Doch die meisten tamilischen Ankömmlinge mussten damals mit Jobs im Tieflohnsektor vorliebnehmen – und nicht wenige sind dort geblieben. «Sie haben weniger und weniger lang einbezahlt als der Durchschnitt hierzulande», sagt Damaris Lüthi.

Die Sozialanthropologin hat schon an zwei umfassenden Studien zum Thema mitgewirkt – und schätzt die AHV der Tamilen als «verhältnismässig tief» ein. Dazu kommen Überweisungen in die alte Heimat, Verpflichtungen gegenüber der grossen Diaspora.

«In Sri Lanka alt zu werden, kann ich mir nicht mehr vorstellen»
Moorty Selliah

Die Community ist für die tamilische Kultur unerlässlich. Sie ist zugleich Rückhalt und Kontrollorgan, erfüllt soziale Funktionen, kann aber auch Druck ausüben. Ist sie am Ende mehr Verpflichtung als Ressource? «Nein», sagt Selliah, der Priester. Für ihn ist die Diaspora auch ein Zeugnis einer der grössten Qualitäten der tamilischen Gemeinschaft: ihrer beeindruckenden Selbstorganisation.

Gerade die Hindu-Tempel sind eine wichtige Anlaufstelle für die ältere Generation. «In Sri Lanka alt zu werden, kann ich mir nicht mehr vorstellen», sagt Selliah, der ältere. Zu unsicher, zu fremd, zu heiss. Ob mit oder ohne Hilfe seiner Kinder, ob im Altersheim oder zu Hause, das sei ihm egal.

Es ist spät geworden, und die beiden Selliahs müssen los. Auf der Schwelle in die Nacht kommt dem Mann vor dem Lebensabend noch in den Sinn, warum er wirklich unbedingt hier alt werden will: «Heiss kann es ja auch hier werden. Aber dann fahre ich ins Berner Oberland.»

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