«Alec, ich ziele nicht auf dich» – «Deine Scharfschützen schon»

Im grossen «Bund»-Gespräch sagen Alec von Graffenried und Ursula Wyss, wofür sie sich gegenseitig beneiden.

Und sie reden über Poller, tiefere Steuern und die Migros.

Interview: Patrick Feuz und Marcello Odermatt

Die Frage, wer Berns Stapi werden soll, bewegt. Sie beide lösen als Person teils starke Emotionen aus. Woran liegt das?
Ursula Wyss: Im Stapi-Wahlkampf geht es um Personen und um Themen, die viele Leute konkret etwas angehen. Kommt dazu, dass nun auch bei uns das Phänomen der sozialen Medien die Wahlen mitprägt.

Alec von Graffenried:
Der politische Diskurs verändert sich in eine Richtung, die mir nicht gefällt. Standpunkte werden zugespitzt und verkürzt. Zwischentöne sind nicht mehr gefragt. Der rauhere und aggressive Ton ist eine Folge davon.

Nochmals: Sie beide polarisieren im jeweils gegnerischen Lager stark. Wie erklären Sie sich das?
Von Graffenried: Die teilweise aggressiven Angriffe machen mich ratlos.
Wyss: Ich wollte einen Wahlkampf mit Inhalten führen. Dann habe ich gemerkt, wie viel Emotionalität in dieser Auseinandersetzung steckt. All diese Zuschreibungen, mit denen ich konfrontiert wurde, das war hart.

Sie sehen sich als Opfer von Geschlechter-Stereotypen. Gleichzeitig setzen Sie selber bewusst auf das Geschlechter-Argument.
Wyss: Es ist ein Argument von vielen. Aber ich habe in meinem Wahlkampf immer mit Inhalten argumentiert. Inhalte sind mir wichtig.
Von Graffenried: Du wirst nicht müde, das zu betonen. Damit unterstellst du mir, ich sei inhaltlslos. Dabei unterscheiden wir uns bei den Inhalten kaum und haben eine gemeinsame Wahlplattform erarbeitet.

Ist Alec von Graffenried nur ein strahlendes Lächeln?
Wyss: Ich habe nicht im Sinn, dich zu qualifizieren, Alec. Ich rede im Wahlkampf bewusst nur von mir und ziele nicht auf dich. Das gehört zu einem fairen Wahlkampf.
Von Graffenried: Du sagst, dass du einen fairen Wahlkampf machst. Und kurz darauf kommen wieder deine Scharfschützen und verbreiten in Online-Kommentaren, ich sei inhaltlos und entscheidungsschwach.

Mann ohne klare Positionen, entscheidungsschwach: Treffen Sie diese Zuschreibungen?
Von Graffenried: Sie ärgern mich. Es geht in der Politik eben gerade nicht in erster Linie um die eigenen Positionen. Es nützt wenig, wenn jeder sagt: Genau so muss es sein. Es geht in der Politik darum, Ideen zu diskutieren und sie prozesshaft vorwärtszubringen und am Schluss zusammenzufügen, dass ein zählbares Ergebnis herauskommt. Bei diesen Wahlen geht es darum, die richtige Person dafür ins Stadtpräsidium zu wählen.


Kommt es aufs Geschlecht an? Und ist die SP-Vorherrschaft gesund für Bern? Die Diskussion im Video.


Ursula Wyss SP

Nach dem Besuch des Gymnasiums in Neuenburg studiert Ursula Wyss, Jahrgang 1973, in Bern und Glasgow Ökonomie und wirkt als Mitarbeiterin am Öko-Institut in Berlin. 1997 wird die Jungsozialistin in das Berner Kantonsparlament gewählt, ab 1999 sitzt sie als jüngste Frau im Nationalrat. Von 2006 bis 2012 leitet sie die sozialdemokratische Bundeshausfraktion und wirkt in der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie und der Finanzkommission mit. Seit 2013 ist Ursula Wyss Berner Gemeinderätin und leitet die Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün. Die heute 43-jährige Wyss ist Mutter zweier Söhne im Schulalter.


Alec von Graffenried GFL

Nach der Matur am Gymnasium Neufeld in Bern studiert Alec von Graffenried, Jahrgang 1962 und Mitglied der Grünen Freien Liste, an der hiesigen Universität Jus. Bevor er im Jahr 2000 Regierungsstatthalter im Amtsbezirk Bern wird, arbeitet er als selbständiger Anwalt. 2007 wird von Graffenried als Vertreter der Grünen in den Nationalrat gewählt, wo er bis Ende 2015 bleibt. In dieser Zeit ist er beruflich für die Losinger Marazzi AG tätig, zuerst als Verantwortlicher für nachhaltige Entwicklung, dann als Direktor für Immobilienentwicklung. Seit 2010 präsidiert er nebenamtlich Bern Tourismus. Der heute 54-jährige von Graffenried ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

«Ich bin kein Teflon-Politiker, an dem alles abprallt. » –Alec von Graffenried

«Für dieses Amt braucht es vor allem viel Energie.» –Ursula Wyss

Frau Wyss, was bringt Herr von Graffenried für das Stadtpräsidum mit, worum Sie ihn beneiden?
Wyss: Vielleicht diese Ruhe, die er eben erwähnt hat. Die Ruhe, zunächst einmal die Diskussionen abzuwarten und sie dann am Schluss zu bündeln. Ich habe viel Elan und will die Dinge vorwärtstreiben. Nun ja, da fehlt mir vielleicht manchmal ein wenig die Geduld.

Herr von Graffenried, was bringt Frau Wyss für das Amt mit, worum Sie sie beneiden?
Von Graffenried: Sie ist seit jeher Profipolitikerin und hat sich immer in diesem Umfeld bewegt. Ich war immer auch in anderen Bereichen aktiv und weiss jetzt nicht genau, wie es für mich sein wird, wenn nur noch die Politik im Zentrum steht.

Sie beide haben sich schon bei den Medien über Berichterstattungen beklagt. Wie dünnhäutig darf man als Stapi sein?
Von Graffenried: Ich will die Dinge an mich herankommen lassen. Ich bin kein Teflon-Politiker, an dem alles abprallt. Mit dem Aufkommen des Online-Journalismus ist der mediale Druck auf die Politiker enorm gestiegen. Immer verfügbar sein zu müssen, das kann zum Stressfaktor werden.
Wyss: Ich beklage mich sehr selten, nur, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle. Wegen der Online-Medien stehen Politiker wie Journalisten unter dem gleichen Zeitdruck. Beide kämpfen darum, wer zuerst die Interpretation von Ereignissen definieren kann.


Was muss ein Stapi können? Und wie empfindlich sind die beiden Kandidierenden? Die Diskussion im Video.

Welche persönliche Eigenschaft ist am nützlichsten, um in einer Stadt wie Bern ein guter oder eine gute Stapi zu sein?
Von Graffenried: (lacht) Man muss es einfach können. Man muss auf die Leute zugehen können, den Draht zu ihnen finden, sie ernstnehmen. Oder wie Alex Tschäppät treffend sagt: Man muss Bern und die Menschen, die hier leben, gern haben.
Wyss: Das ist sicher das Fundament. Ich habe Bern und die Menschen, die hier leben, auch gern. Aber für das Amt braucht es vor allem auch viel Energie. Man trägt rund um die Uhr die Gesamtverantwortung für die Stadt.
Von Graffenried: Die Schlüsseleigenschaften, die für das Amt gefragt sind, sind zudem nicht immer die gleichen. Klaus Baumgartner hat für die Entwicklung der Stadt in seiner zwölfjährigen Amtszeit viel angedacht und vorbereitet. Alex Tschäppät konnte dann einiges umsetzen. Jetzt braucht die Stadtentwicklung wieder einen neuen Schub, eine neue Perspektive. Dazu braucht es jemanden, der Knöpfe lösen kann.
Wyss: Auch in der Ära Tschäppät haben wir vieles aufgegleist, das jetzt erst noch umgesetzt werden muss. Seit den Nullerjahren ziehen die Menschen wieder in die Städte, was absolut richtig ist und der nationalen Raumplanungspolitik entspricht. Wir müssen den Fokus in den nächsten Jahren auf die Arealentwicklung setzen und verwirklichen, was angedacht ist. Daneben braucht es sicher auch neue Ideen und Planungen.

Herr von Graffenried, Sie wollen ein Brückenbauer sein. Warum soll Frau Wyss das nicht genau so gut können?
Von Graffenried: Mir sagen viele Leute, dass ich ihnen gut zuhöre und ihre Anliegen verstehe. Das ist mir schon als Regierungsstatthalter gut gelungen. Daran möchte ich als Stadtpräsident anknüpfen. Ich werde auch von Leuten akzeptiert, die meine politischen Meinungen nicht teilen.
Wyss: Ich habe in den vergangenen vier Jahren gezeigt, dass ich vermitteln und
Kompromisse finden kann, etwa bei der politisch blockierten Grüngutsammlung. In der städtischen Politik geht es aber auch oft um Inhalte, die wenig mit links und rechts zu tun haben, und daher nicht das Überbrücken von parteipolitischen Differenzen im Vordergrund steht. Lebensqualität, öffentlicher Verkehr, schöne Plätze: Das sind Anliegen, die alle teilen. Wichtig ist es dort, die Bürgerinnen und Bürger bei Planungen von Anfang an einzubeziehen. Die enge Zusammenarbeit der Stadt mit den Quartierkommissionen ist eine Erfolgsgeschichte. So haben wir mehrere Volksabstimmungen gewonnen, und zwar deutlich.

Sehen Sie das nicht gar romantisch? In Bern gibt es Leute, die sich politisch an den Rand gedrängt fühlen und...
Wyss: … Entschuldigung, das ist mir jetzt wichtig. Lassen Sie mich deshalb ergänzen: Wir tun alles, damit unsere Planungen vorbildlich, mit breiter Partizipation laufen. Natürlich gibt es manchmal harte Auseinandersetzungen. Aber alle wollen eine Lösung. Und am Schluss liegt eine vor, die fast allen gefällt. Bei der Neugestaltung des Breitenrainplatzes etwa haben fast 60 Gewerbler eine Verkehrsberuhigung unterstützt.

Nochmals: Es gibt Leute, die sich in der rot-grün dominierten Stadt politisch an den Rand gedrängt fühlen. Und im Stadtrat gibt es immer die gleichen rot-grünen Mehrheiten.
Wyss: Die Debatten im Stadtrat sind das eine. Die konkrete Umsetzung in den Quartieren ist das andere. Die Stadträte sind etwas weiter weg von diesen Diskussionen.
Von Graffenried: Das ist ein springender Punkt. Heute werden die Stadträte von der Verwaltung nur punktuell ins Bild gesetzt. Künftig muss man sie unbedingt früher und intensiver in die Arbeit mit den Quartierkommissionen einbeziehen.

Politisch unterscheiden Sie sich kaum voneinander. Trotzdem gefallen Sie vielen bürgerlichen Wählern besser, Herr von Graffenried. Warum?
Von Graffenried: Ich bin im Rot-Grün-Mitte-Lager gut verankert. Das hat mein Resultat im ersten Wahlgang gezeigt. Dazu bringe ich Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen mit, auch aus der Wirtschaft. Ich teile also auch Erfahrungen von Leuten, die nicht auf der Verwaltung arbeiten. Dieser Leistungsausweis gefällt über die Parteigrenzen hinaus.

Sie fühlen sich wohl dabei, wenn der Parteivorstand der SVP Stadt Bern Sie einstimmig zur Wahl empfiehlt?
Von Graffenried: (lacht) Es wäre nicht gut, wenn mich nur die SVP zur Wahl empfehlen würde.

Ist Alec von Graffenried der rechte Wolf im linken Schafspelz, wie dies von SP-Exponenten behauptet wird, Frau Wyss?
Wyss: Wie gesagt, ich qualifiziere meinen Konkurrenten nicht.
Von Graffenried: Wie gesagt, das überlässt du deinen SP-Kollegen in den Onlineforen.
Wyss: Nein. Wir werden ja beide aus allen Richtungen auf den Onlineforen teils heftig kritisiert. Aber dass Alec etwa zuerst von FDP-Präsident Philippe Müller portiert wurde, wurde tatsächlich kommentiert, allerdings von ganz verschiedener Seite.

Sind Sie linker und ökologischer als Herr von Graffenried, Frau Wyss?
Wyss: Ich habe aufgrund meiner vierjährigen Arbeit im Gemeinderat konkrete Leistungen vorzuweisen, aufgrund derer die Leute wissen, wo ich inhaltlich stehe. Vor vier Jahren war ich noch weitgehend eine Projektionsfläche. Das geht jedem neuen Gemeinderatsmitglied so.
Von Graffenried: Sorry Ursula, ich bin mehr als eine Projektionsfläche. Viele Leute wissen, wofür ich stehe. Ich bin in dieser Stadt schon seit über 30 Jahren aktiv, auch politisch. In diesen Jahren haben sehr viel Leute mit mir zu tun gehabt, sie kennen mich.

Von Pollern über Steuern bis zur Reithalle: Die Positionen zu den Berner Aufregern

Steuersenkungen

Von Graffenried: Die Entwicklung der Stadtfinanzen ist gut. Das war nicht immer so. Bern konnte die Pensionskasse sanieren, und für die notwendige Sanierung der städtischen Infrastrukturen wurden Rückstellungen gebildet. Der Spielraum für eine Steuersenkung ist heute vorhanden - sofern uns der Bund nicht zusätzliche Lasten aufbürdet.
Wyss: Es ist eine Frage der Prioritätensetzung. Zuerst müssen wir in unsere Schulen und Sportanlagen investieren. Danach müssen wir Investitionen für das Wachstum der Stadt tätigen. Wenn dann die Einnahmen immer noch höher sind als die Ausgaben, können wir über eine Steuersenkung diskutieren. Heute sehe ich angesichts der Aufgaben, die wir erledigen müssen, kaum finanziellen Spielraum. Ich will keine Stadt, die auf der einen Seite für die Familien da sein will, auf der anderen Seite eine Sparrunde nach der anderen einleiten muss.
Von Graffenried: Richtig, für die familienexterne Kinderbetreuung müssen wir noch mehr tun. Und das Investitionsniveau müssen wir halten. Wir brauchen aber keine zusätzlichen Sparmassnahmen, um auch mal die Steuern zu senken.


Velobrücke

Von Graffenried: Die ist gar nicht so teuer. Bern muss sich weiterentwickeln. Wir brauchen mehr Dynamik in der Stadt, nicht weniger. Mit einer Velobrücke eröffnen sich völlig neue Perspektiven, neue Verkehrsbeziehungen und Räume. Wenn die Velobrücke gebaut ist, wird sie sonntags überfüllt sein von Leuten, die dort spazieren und das Panorama geniessen. 7000 Arbeitsplätze im Wankdorf werden mit der Brücke direkt an die Länggasse angeschlossen. Die Uni ist direkt vom Wyler erreichbar. Dies entlastet den Bahnhofplatz. Die Quartiere Wyler und Innere Enge werden miteinander verbunden. Diese Brücke macht Sinn - und dazu auch noch Spass.
Wyss: Wir haben ja nicht nur auf die Velobrücke gesetzt. Wir haben die erste Velohauptroute vom Bahnhof ins Wankdorf gebaut. Jetzt planen wir die nächste mit Köniz. Wir gehen pragmatisch vor. Die Velobrücke gehört dazu. Das Volk kann darüber abstimmen. Bund und Kanton beteiligen sich zu je einem Drittel an diesem Projekt. Die Stadt muss die Brücke aber vorantreiben. Dasselbe gilt für den Weiterzug des RBS-Bahnhofs an die Insel. Dieser ist sinnvoll, weil das Inselspital einer der grössten Arbeitgeber im Kanton ist
Von Graffenried: Wir müssen mutige Diskussionen führen. Auch beim Bahnhof. Während Zürich bereits zwei Durchgangsbahnhöfe gebaut hat, ist Bern immer noch ein Flaschenhals. Wir sollten über eine Metro vom Bahnhof zum Inselspital und weiter bis nach Köniz diskutieren. Sonst bringen wir Bern nicht weiter. Die Diskussion über die Verlängerung des RBS bis nach Köniz wurde seinerzeit unterbunden, um die Tramvorlage nicht zu gefährden. Nun ist das Tram nach Köniz gestorben, dann kann man auch wieder über die Verlängerung der S-Bahn diskutieren.
Wyss: Die RBS-Linie bis nach Köniz zu ziehen, da bin ich skeptisch. Untertunnelungen sind teuer.

Poller

Wyss: Poller sind das letzte Mittel, wenn ein Problem nicht anders zu lösen ist. Die Poller in der Länggasse waren das Ergebnis einer Volksabstimmung und eine Forderung des Quartiers, weil es Suchverkehr befürchtet hatte.
Von Graffenried: Ich habe nicht verstanden, warum man die die neusten Poller in der Länggasse noch gebaut hat. Die Verkehrsberuhigung im Quartier war bereits zuvor dank anderen Massnahmen geglückt.

Gewalt bei der Reitschule

Von Graffenried: Wir müssen. Diese Gewalt will niemand. Am Wochenende sind derart viele Leute im Raum Reitschule, Bahnhof, Bierhübeli unterwegs, die Ausgehmeile hat sich weitgehend in diesen Raum verlagert, und das ist auch gut so. Diesen tausenden Leuten sind wir es schuldig, für die Sicherheit im Ausgang zu sorgen.
Wyss: Wir sind auf dem richtigen Weg. Es ist ein dauerhafter Prozess, der sich aber lohnt, weil die Reitschule eine gute Kulturinstitution und ein sehr urbaner Ort in Bern ist. Das «Neustadtlab» im Sommer hat es gezeigt: Viele Leute gingen auf die Schützenmatte, die sonst nicht vor der Reitschule verkehren. Die Gewalt ist ein Problem. Aber der Ort hat viel Potential.

Hilft die Ikur mit, gegen Gewalt vorzugehen?
Wyss: Die Zusammenarbeit mit der Reitschule hat sich stark verbessert.
Von Graffenried: Viel, was vor der Reitschule passiert, kann die Ikur mit ihrem Ideal der Gewaltfreiheit nicht vereinbaren. Hier hat ein Denkprozess angefangen.


Bezahlbare Wohnungen

Von Graffenried: Das Preisniveau bekommen wir in den Griff, wenn wir genügend Wohnraum schaffen. Es braucht jährlich rund 500 Wohnungen. Diese kann die Stadt nicht alleine bauen. Es braucht dafür die Unterstützung von Privaten. Und dann müssen wir den genossenschaftlichen Wohnbau ankurbeln. Die Genossenschaften müssen aber auch öffentliche Aufgaben übernehmen, wenn sie günstigeres Bauland von der Stadt wollen. Sie sollen zum Beispiel Wohnungen für sozial Schwache anbieten, oder auch Wohnraum für die Migrationsbevölkerung bereitstellen. Das tun sie heute teilweise zu wenig.
Wyss: Die Stadt muss die Verantwortung bei den Quartierentwicklungen haben. Sie braucht selbstverständlich die Unterstützung der Privaten. Die Bedeutung der Gemeinnützigen beim Wohnungsbau muss zunehmen, weil sie nicht auf eine Marktmiete angewiesen sind, sondern eine tiefere Kostenmiete verlangen können. Und ja, es braucht Belegungskriterien.

Wirtschaft

Wyss: Ohne Wirtschaft ist die Stadt nicht denkbar. Die Frage ist, welche Wirtschaft. Auch eine Verwaltungsstadt als Dienstleistungs- und Universitätsstandort hat ihre Qualitäten. Post, Swisscom und SBB sind für Bern wichtig und attraktiv. Sorge tragen müssen wir zu kleinen Gewerbebetrieben. In der Innenstadt werden die fehlende Anbindung und die Parkplatzsituation bemängelt. Wir sind derzeit daran, mit den Gewerbevertretern zu klären, wie die Innenstadt besser beliefert werden kann.
Von Graffenried: Es mag paradox klingen: Aber die Wirtschaft spielt in Bern eine wichtigere Rolle als in Zürich. In Bern ist der Messeplatz privatwirtschaftlich organisiert und finanziert. Auf privater Basis hat sich ebenfalls der Kongressplatz weiterentwickelt und es sind die Stadien gebaut worden - Zürich hat das alles bisher nicht geschafft, und finanziert nun alle diese Vorhaben aus Steuergeldern.

«Migroisierung» der Altstadt

Von Graffenried: Auch die Migros kann für einen guten Mix sorgen. Die Migros hat die Welle7 gebaut, es ist ein spannendes Konzept. Sie bewirtschaftet auch den Gurten. Die Migros hat sehr viel sehr gut gemacht in Bern. Sie ist leistungsfähig. Dafür sollten wir der Migros danken und sicher nicht jammern.
Wyss: Ich verteufle die Migros auch nicht. Aber die Altstadt leidet unter den Mietzinsen. Das sind private Mietzinsen. Wenn man für kleinste Ladenlokale 12’000 Franken im Monat zahlen muss, dann stimmt etwas nicht. Ich würde mir wünschen, dass wir wieder Mietzinse hätten, die von Läden getragen werden könnten, die nicht zu einer Kette gehören.
Von Graffenried: Das Einkaufsverhalten hat sich radikal verändert. Gerade das Ende des Mediamarkts-Standorts Markthalle ist das beste Beispiel dafür. Warenströme und Einkaufsströme trennen sich wegen dem Online-Handel immer mehr. Verkaufsflächen sind in Zukunft nicht mehr so begehrt. Die Mietzinsen werden sinken. Wir werden uns anstrengen müssen, damit die Altstadt trotzdem attraktiv bleibt. Das wird eine grosse Herausforderung.
Wyss: Die Frage ist, was die Stadt dafür unternehmen kann. Wesentlich ist, dass die Menschen in den Gassen verweilen wollen. Dass es kleine Angebote gibt mit hoher Aufenthaltsqualität. Das Unesco-Weltkulturerbe, das wir erben durften, ist ein Segen. Nun müssen wir dafür sorgen, dass es weiterhin genutzt wird.

In Österreich ist ein Grüner Staatspräsident geworden. Baden-Würtemberg hat einen grünen Ministerpräsidenten. Herr von Graffenried, was würde das erste grüne Präsidium in Bern bedeuten?
Von Graffenried: Es würde bestens zu dieser Stadt passen. Bern ist nicht nur vom Wähleranteil her die grünste Stadt der Schweiz, sondern auch in punkto Lebensqualität. Also wäre es ein logischer Schritt. Es würde zeigen, dass die Stadt auch unter grüner Leadership florieren könnte.

Das Stadtpräsidium ist seit 24 Jahren in SP-Hand. Mit Ihrer Wahl, Frau Wyss, könnten daraus 36 Jahre werden. Ist eine so lange Vorherrschaft gesund für eine Stadt?
Wyss: Die Themen von Rot und Grün sind grossmehrheitlich dieselben. Wir wollen mehr Lebensqualität für Bern. Ich vertrete genauso grüne Themen wie Grüne soziale Themen vertreten. Als Bundesstadt klimaneutral zu werden, ist weder spezifisch ein grünes noch spezifisch ein rotes Thema. Es ist ein städtisches Thema. Gerade unser gemeinsamer Wahlkampf hat es gezeigt. Die Wähler sehen es auch so und haben RGM mit vier Sitzen gestärkt.

Impressum
Interview: Patrick Feuz und Marcello Odermatt
Videos: Martin Erdmann
Bilder: Adrian Moser
Umsetzung: Gianna Blum

Impressum
Interview: Patrick Feuz und Marcello Odermatt
Videos: Martin Erdmann
Bilder: Adrian Moser
Umsetzung: Gianna Blum

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