Schleifen für den Arbeitsmarkt

Tausende Sozialhilfebezüger überbrücken im Kanton Bern ihre Arbeitslosigkeit mit Beschäftigungsprogrammen. Bedarf gibt es vor allem bei niederschwelligen Angeboten.

Spürt Wertschätzung: Manfred Rominger schleift Gläser in der Glasdesign-Werkstätte im Berner Felsenauquartier.

Spürt Wertschätzung: Manfred Rominger schleift Gläser in der Glasdesign-Werkstätte im Berner Felsenauquartier.

von Moritz Marthaler (Text), Valérie Chételat (Bilder).

Wasser spült die groben Körner weg, zurück bleibt eine glatte, einwandfreie Glasfläche. Manfred Rominger blickt zufrieden, «man muss genau und gründlich sein», sagt er und greift zum nächsten Glas. Dutzende Kilogramm Altglas kommen in der Glasdesign-Werkstatt im Berner Felsenauquartier jeden Tag unter den Glasschneider, die Schleifmaschine, den Dekorierstift. Upcycling (Aufwertung) heisst das Zauberwort. Aus Bierflaschen entstehen Trinkgläser, aus zackigen Bruchstellen weiche Ränder. Doch Leute wie Rominger sind nicht auf der Arbeit. Sie beziehen Sozialhilfe, werden beschäftigt, soziale Integration (SI) sagt der Behördensprech. Schleifen für den Hausgebrauch – geschliffen für den Arbeitsmarkt? Ganz so einfach ist es nicht.

Wer Sozialhilfe bezieht, ist meistens auf der Suche nach dem Weg zurück in die Spur. Im Kanton Bern bietet die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) dabei Hilfe in Form von Beschäftigungs- und Integrationsangeboten in der Sozialhilfe (Bias). Sie sind regional sehr verschieden und zugeschnitten auf die diversen Ansprüche. So sind von jenen, die so unterstützt werden, die wenigsten komplett arbeitsunfähig, aber für den freien Arbeitsmarkt kommt wiederum eine Mehrheit nicht mehr infrage. Menschen um die 50, die in einem schwierigen Lebensabschnitt ihre Anstellung verloren haben und seither um den Anschluss kämpfen – das ist die prototypische Biografie der Mitarbeitenden in der Felsenau. Sie sind froh, dürfen sie herkommen, und manchmal sind sie auch froh, müssen sie nicht.

Kritisch: Holdener (l.) und Egger vom Kompetenzzentrum Arbeit Bern.

Kritisch: Holdener (l.) und Egger vom Kompetenzzentrum Arbeit Bern.

Immer mit Anschluss

«Fast alle Leute arbeiten gerne, auch Sozialhilfebezüger», sagt Christian Holdener vom Berner Kompetenzzentrum Arbeit (KA). Das KA koordiniert die Bias-Angebote für den Perimeter Bern. Orte wie die Glasdesign-Werkstatt gibt es viele, aus eigenen Angeboten der Direktion für Bildung, Soziales und Sport oder aus einem der über 300 Partnerbetriebe. Fast 800 Sozialhilfebezüger haben im vergangenen Jahr im Perimeter Bern eines dieser Angebote in Anspruch genommen. Bias-Angebote sind zahlreich und breit angelegt, in ihrer Komplexität aber nicht ganz einfach zu durchschauen. Der Kanton ist in acht Perimeter aufgeteilt, in denen wiederum ein strategischer Partner das Bias-Angebot koordiniert.

Doch das richtige Programm zu finden, ist für einen Arbeitslosen schwierig, auch auf dem unterstützten, dem zweiten Arbeitsmarkt. «Wichtig ist, dass es genügend niederschwellige Angebote gibt», sagt Daniel Egger, der mit der Glasdesign-Werkstatt ein solches verantwortet. Hier beginnt das Stufenmodell. Es treffen sich Leute, die die Leiter hinuntergeklettert sind, die für den Arbeitsmarkt vorerst nicht mehr infrage kommen. Natürlich erhoffen sie sich, dass sie dereinst wieder den Weg nach oben finden. Oben, dort wartet die berufliche Integration (BI), wo mit Praktikumsplätzen und Angeboten im Teillohnmodell (siehe Kasten) der Wiederanschluss an den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Dazu kommen kommunale Integrationsangebote (KIA), die der Kanton mitfinanziert, die aber von den Gemeinden gestaltet werden. Wie wichtig diese Durchlässigkeit ist, wird auch beim Kanton hervorgehoben. «Es muss auf alle Angebote hin ein Anschlussangebot geben, auch bei der sozialen Integration», heisst es da.

«Die kantonalen Regeln sind zu starr, die politischen Ziele unrealistisch.»

Status quo ist nicht schlecht

In der Felsenau hat Manfred Rominger fertig geschliffen, er sortiert jetzt Gläser, die im fabrikeigenen Laden verkauft werden. Seit Januar ist er da, schon drei Monate, damit bewegt er sich im Durchschnitt. Andere kämen schon länger hierher, sagt Betriebsleiter Egger. Zwei, vier, gar sechs Jahre. Das Ziel sei, die Leute im Stufenmodell nach oben zu begleiten. «Einsätze im ersten Arbeitsmarkt haben Priorität, die Stellensuchenden wechseln dann oft innert Stunden den Betrieb», sagt Egger. «Und wer positiv auffällt, den schicken wir so schnell wie möglich weiter.»

Das Angebot im Beschäftigungswesen ist breit, der Status quo nicht so schlecht. Deswegen steht Holdener vom Berner KA der Revision kritisch gegenüber. «Ich habe Mühe mit dem Generalverdacht, unter dem dann alle stehen.» Und er sagt: «Dass man im SI-Bereich alle in den ersten Arbeitsmarkt integrieren kann, ist eine Illusion.» Es gebe viele, die würden bleiben. Diese Plätze müssten vorhanden und bezahlt sein. «Und die Arbeit sollte sich auch im zweiten Arbeitsmarkt finanziell lohnen.»

Massarbeit: In der Glasdesign-Werkstätte entstehen aus alten Flaschen Trinkgläser. Erster Schritt: Das Glas mittels Hitze schneiden.

Dann: die raue Oberfläche glatt schleifen.

Schliesslich: dem Trinkglas eine Dekoration verpassen.

Fünf Millionen Franken hat die GEF gemäss eigenen Angaben für Investitionen beiseitegelegt. Gemäss Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) wollte man ursprünglich die Hälfte des Betrags reinvestieren, der eingespart wird, falls bei der Abstimmung am 19. Mai zur Revision des Sozialhilfegesetzes die Vorlage des Grossen Rates angenommen wird. Mittlerweile ist die GEF aber davon abgerückt, offenbar will man fix zehn Millionen Franken sparen – und nur wenn der eingesparte Betrag höher ausfällt, davon etwas wieder für Beschäftigungsprogramme einsetzen. Und aktuell? Ist das Angebot ausreichend? «Es gibt viel, aber sicher nicht genug», sagt Thomas Michel, Co-Präsident der Berner Konferenz für Sozialhilfe. Und es sei auch nicht klar, wovon es mehr braucht –  jeder sehe «nur seine Palette». Ein Nachteil im grossen Kanton Bern: Das breite, verästelte Angebot ist wegen der diversen finanziellen Zuständigkeiten schlecht koordiniert. «Und die kantonalen Regeln sind zu starr, die politischen Ziele unrealistisch», sagt Michel.

Manfred Rominger macht sich darüber keine Gedanken. Früher war er Maurer, dann Chauffeur. Heute ist er arbeitslos und kommt gerne in die Felsenau. Warum? «Weil meine Arbeit geschätzt wird.»

Nicht nur Vermittler, auch Überwacher

So funktioniert die Vermittlung der Sozialhilfebezüger.

Zu den erfolgreicheren Modellen in der Arbeitsintegration zählen die Einarbeitungszuschüsse (EAZ). Hier übernimmt das KA während einer sechsmonatigen Einarbeitungsphase 40 Prozent des Bruttolohns. Die Erfolgsquote liegt bei vergleichsweise hohen 71 Prozent. Ähnlich aufgebaut sind andere Teillohnmodelle wie etwa jenes der Plattform Jobtimal.ch. Das Projekt vermittelt nur teilweise arbeitsfähige Kandidaten an Unternehmen, die bereit sind, jemanden im Teillohnverhältnis anzustellen. Die Arbeitgeber zahlen den branchenüblichen Lohn, abgestuft nach Leistungsfähigkeit. Eine zu 60 Prozent arbeitsfähige Person erscheint dann zu 100 Prozent beim Arbeitgeber, dieser bezahlt 60 Prozent des Gehalts, der restliche Teil des Lebensunterhalts wird weiterhin durch die Sozialhilfe bestritten.


Das Image-Video des Jobportals für Sozialhilfebezüger.

Profit verhindern

Jobtimal.ch ist ein nicht gewinnorientierter Vermittler, der von den Sozialpartnern, Behörden und Betrieben getragen wird, wie Christoph Erb, Leiter von Berner KMU und Beirat von Jobtimal.ch, erklärt. «Nicht nur die Sozialhilfe wird entlastet, auch haben die Arbeitgeber weniger sozialbürokratische Schreibarbeit, vor der sie oft zurückschrecken und deswegen von einem sozialen Angebot absehen.» Der Organisation kommt auch die Funktion eines Überwachers zu. Es gilt zu verhindern, dass ein Unternehmen allein übertrieben viele solcher Teillohnkräfte rekrutiert. Billige Arbeitskräfte mit einer guten Marge – das ist nicht das Ziel des Modells.

© Tamedia