Ein allgemeiner Trend ist in Bern angekommen. Sei es der Austausch mit Freunden, lesen, telefonieren oder essen: «Wir verlagern immer mehr private Aktivitäten nach draussen», sagt Marta Kwiatkowski vom Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon ZH. Sie ist Mitautorin einer Studie über die Zukunft des öffentlichen Raums. «Unser Lebensstil hat sich verändert und damit auch die Art, wie wir den öffentlichen Raum nutzen», sagt sie.
Stadtverwaltungen, aber auch Private nehmen den Trend auf und machen im öffentlichen Raum Dinge frei zugänglich, die früher persönlich in den eigenen vier Wänden genutzt wurden. So kommt es, dass sich öffentliche Plätze und Flächen verwandeln. In der Stadt Bern findet man dafür Beispiele auf Schritt und Tritt: ein Bücherschrank im Park, ein Klavier im Bahnhof, ein Gasgrill an der Aare. Der öffentliche Raum werde zunehmend als erweitertes Wohnzimmer genutzt, hält Gemeinderätin Ursula Wyss fest. Die SP-Politikerin beteiligt sich intensiv an der Möblierung von öffentlichen Plätzen und tut dies genauso intensiv öffentlich kund. Sie ist nicht allein. Während sie zum Beispiel am kommenden Montag die Medien zur Präsentation von neuen «hindernisfreien und altersgerechten» Sitzbänken einlädt, kündigt die Stadt Langenthal für den gleichen Tag eine Medienorientierung über neue Sitzgelegenheiten im Stadtzentrum an. Was veranlasst Stadtverwaltungen dazu, in den öffentlichen Raum einzugreifen und mit dessen Möblierung vorzugeben, wie die Bevölkerung ihn zu nutzen hat?
Gemeinderätin Wyss stellt die Frage, wie ein attraktiver öffentlicher Raum für alle zu schaffen sei, gar ins Zentrum der Arbeit ihrer Direktion. Sie hat zum Thema kürzlich ein Positionspapier veröffentlicht: Der öffentliche Raum werde für die Stadt immer wichtiger, hält sie darin fest. Als Treiber dieser Entwicklung nennt sie die steigenden Mietpreise. Da man sich als Stadtbewohner grosse Wohnungen oft nicht mehr leisten könne, nutze und gestalte man zunehmend den Platz draussen. Kritiker linker Stadtpolitik argumentieren allerdings genau umgekehrt: Die Städte hätten den öffentlichen Raum aufgewertet, und das habe steigende Mieten nach sich gezogen, die sich viele nicht mehr leisten könnten.
Privat und Öffentlich mischt sich
Dass sich die Stadtbevölkerung vermehrt mit dem Aussenraum beschäftigt, führt Marta Kwiatkowski, die in Bern wohnt, auf mehrere Faktoren zurück. Auch sie erwähnt die kleineren Wohnflächen. Zusätzlich nennt sie die Mobilität und die Digitalisierung: «Wir sind mehr unterwegs und weniger zu Hause. Auf die häusliche Bequemlichkeit wollen wir aber nicht verzichten, und so übertragen wir sie nach draussen.» Tatsächlich konnte man von Anbietern lesen, die in Städten wie New York oder Madrid in ihren Läden Plätze für ein Mittagsschläfchen vermieten. «Die Digitalisierung hat ausserdem die Grenze zwischen Öffentlich und Privat verwischt», fährt Kwiatkowski fort. «Das übertragen wir in die analoge Welt.» Wir könnten uns heute kabellos von fast jedem Ort aus mit Freunden in der Ferne austauschen «und sind so vielleicht mitten in der Öffentlichkeit in einen ganz privaten Austausch vertieft».
Gemeinderätin Wyss fordert die Stadtbevölkerung auf, freie Flächen oder Parkplätze in Beschlag zu nehmen. Sie hat dazu das Projekt Pop-up Bern lanciert, Interessierte können sich bei Stadtgrün Bern melden und mitmachen. Wer sich den öffentlichen Raum aneigne, identifiziere sich stärker mit ihm, schreibt sie im Positionspapier. Das Klavier im Bahnhof wurde oft gespielt und der von Energie Wasser Bern zur Verfügung gestellte Gasgrill oft benutzt. Doch von wem? «In einer demokratischen Gesellschaft besteht ein selbstverständliches Recht aller auf öffentlichen Raum», hält Ursula Wyss in ihrem Positionspapier zwar fest. Auch fordert sie vehement die Zugänglichkeit für alle zu öffentlichen Plätzen. Die Vermutung liegt allerdings nahe, dass die Angebote von Gruppen in Anspruch genommen werden, die sich sowieso am öffentlichen Geschehen beteiligen, auf die anderen jedoch wenig Anziehungskraft ausüben. Wenn sich diese andere Orte zum Verweilen suchen, ist dies einer Durchmischung nicht förderlich.
Innovationen in Agglomerationen
Die Stadtverwaltung will dank Begegnungsorten einen spontanen Austausch ermöglichen, dem öffentlichen Raum komme als Kommunikationsort grosse Bedeutung zu, teilte sie gestern mit. Platziert sie jedoch Spielgeräte für kleine Kinder in einen Park, macht sie diesen nicht gleichzeitig für Hundehalter attraktiv. Dann bleibt der Austausch unter seinesgleichen. Kwiatkowski sagt: «Es wird immer eine Segmentierung geben, man setzt sich auch im öffentlichen Raum nicht gerne Konflikten aus, sondern macht sich auf die Suche nach Gleichgesinnten.»
Die Aufwertung des öffentlichen Raums hat Nebenwirkungen. «Städte werden ländlicher», sagt Kwiatkowski. In Bern tragen Gemüsebeete, Gartenstühle, Begegnungszonen oder Veloaktionen zur Landidylle bei. Weil man diese hohe Lebensqualität bewahren wolle, bleibe für Innovationen nicht viel Platz. In ihrer Studie stellen sie und die Mitautoren denn auch fest, dass die Kreativität aus den Städten in die Agglomerationen abwandert. Wer Stadtluft atmen will, schnuppert ausserhalb der Zentren. «Weil dort vieles weniger reglementiert und günstiger ist, werden die Agglomerationen für junge Unternehmer oder Start-ups attraktiv», so Kwiatkowski.
Das Stimmvolk kann sich äussern
So sehr der Trend auch Richtung Öffentlichkeit geht: Sowohl Ursula Wyss als auch Marta Kwiatkowski verweisen auf Deutschland oder England, wo sich eine andere Tendenz abzeichnet: Stadtverwaltungen geben Plätze in private Hände, Unternehmen übernehmen die Pflege und Gestaltung. Von dieser Privatisierung des öffentlichen Raums merken Passanten nichts, solange die privaten Besitzer keine Hausregeln aufstellen, die besonders strikt oder beliebig sind. Auch auf öffentlichen Plätzen gelten Regeln, was sehr schnell bemerkt, wer dort ein Projekt realisieren will. Die Autoren der Studie machen auf die vielen Gebote und Verbote im öffentlichen Raum aufmerksam.
Im Unterschied zu privaten Plätzen seien diese Regeln aber demokratisch legitimiert, sagt Kwiatkowski. Das Stimmvolk kann sich dazu äussern. Vergangenen Sonntag haben dies zum Beispiel die Stadtzürcher getan. Sie haben eine Initiative abgelehnt, die Veranstaltungen auf dem Sechseläutenplatz auf 65 Tage im Jahr beschränken wollte. Nun dürfen Zirkusse, Filmfestival oder Weihnachtsmarkt den grossen Platz weiterhin während rund der Hälfte des Jahres belegen. Die andere Hälfte bleibt er frei.
Auf der Gasse: Die Szene war früher grösser
Für Menschen, die auf der Gasse leben, ist der öffentliche Raum besonders wichtig. Die städtische Interventionsgruppe Pinto hat aktuell Kenntnis von 16 Obdachlosen in Bern, die die Nacht draussen verbringen. «Wir wissen aber nicht von allen, wo sie übernachten», sagt Pinto-Leiter Silvio Flückiger. Seine Gruppe unterstützt sie mit sozialer Arbeit und verteilt falls nötig Schlafsäcke, greift aber nicht ordnungsdienstlich ein, solange es nicht zu Störungen kommt. Draussen zu schlafen, ist nicht verboten. Flückiger, aber auch Barbara Kläsi, Geschäftsleiterin des Vereins für kirchliche Gassenarbeit Bern, verfolgen die Projekte im Stadtraum aufmerksam. Dass die Verwaltung Stühle aufstellt, finden sie gut – «solange sich einfach gekleidete Menschen genauso mit einem Bier setzen dürfen wie Menschen im Anzug», sagt Kläsi. Flückiger hat beobachtet, dass gelegentlich Gespräche zwischen Randständigen und der übrigen Bevölkerung in Gang kommen. Dass Personen verdrängt würden, habe er nicht festgestellt.
Zu Verdrängungen komme es aber dann, wenn Projekte mit Konsum verbunden seien, sagt Kläsi. Früher habe es mehr konsumfreien Raum gegeben, weil weniger Plätze für Veranstaltungen mit Eintritt genutzt worden seien. «Wird der öffentliche Raum auf diese Weise gestaltet, sind als Erste jene nicht mehr dabei, die kein Geld haben.» Verschwänden diese Menschen aus dem Sichtfeld, vergesse man sie auch eher. «Uns ist deshalb wichtig, dass möglichst viele Orte frei zugänglich bleiben.»
Früher waren viel grössere Szenenbildungen zu beobachten, was Flückiger bestätigt. Teilweise gebe es diese Szenen nicht mehr, weil es mehr Möglichkeiten für begleitetes oder betreutes Wohnen gebe sowie mehr Plätze in Anlaufstellen. Die Stadt habe zudem nicht mehr die gleiche Sogwirkung für Menschen von auswärts; und viele Personen, die damals auf der Strasse gelebt hätten, seien gealtert, teilweise nicht mehr mobil und deshalb nicht mehr sichtbar.
Der Verein für kirchliche Gassenarbeit erhebt keine Zahlen zu Obdachlosen. Geschäftsleiterin Kläsi hat allerdings festgestellt, dass es generell zu mehr Kontakten kommt als noch vor einem Jahr: «Wir treffen draussen mehr Leute, es kommen aber auch mehr zu uns ins Büro.» Der Verein – er ist von den Behörden unabhängig – berät Menschen, vermittelt und hilft mit Lebensmitteln oder Gegenständen aus.
«Platz für jene, die nicht konsumieren»
Gemeinderätin Ursula Wyss zu den Plänen der Stadt.
Frau Wyss, wer profitiert von der Aufwertung des öffentlichen Raums?
Am dringendsten brauchen ihn Bewohner mit Kindern in kleinen Wohnungen. Sie sind auf gute Aussenräume angewiesen, die zudem sicher sind. Mit der Belebung steigt die Sicherheit der Plätze. Am wenigsten darauf angewiesen sind Bewohner mit eigenem Garten, aber auch sie können ihn natürlich nutzen.
Bei so viel Sicherheit und Zufriedenheit verschwindet die Kreativität.
Wenn wir von der Tendenz sprechen, dass die Kreativität in die Agglomerationen abwandert, reden wir von Grossstädten wie New York, aber kaum von Bern. New York ist ein Paradebeispiel für fehlenden städtischen Wohnungsbau. Junge Künstler können sich das Wohnen dort nicht leisten. Ein breites Phänomen, aber auch das nicht in Bern, ist hingegen die Kommerzialisierung durch Grossfirmen. Im Ausland werden ganze Strassenzüge privatisiert.
Events sind auch in Bern ein Thema.
Problematisch sind exklusive Grossevents. Deshalb machen wir bei unseren Pop-up-Projekten die zwingende Auflage, dass niemand ausgeschlossen wird. Die Miss-Schweiz-Wahl auf dem Bundesplatz sorgte für Aufruhr, deshalb habe ich den Eindruck, Berns Bevölkerung sei nicht nur sensibilisiert, sondern auch kreativ, um die neuen Möglichkeiten im öffentlichen Raum zu nutzen.
Muss die Verwaltung wirklich neue Stellen einrichten, um sich um den öffentlichen Raum zu kümmern?
Es ist eine sehr bescheidene Aufstockung: Für Projekte wie Pop-up ist eine halbe zusätzliche Stelle bei Stadtgrün vorgesehen. Ausserdem gibt es beim Tiefbauamt zwei zusätzliche Stellen, deren Aufgaben aber von der Stadtplanung zu uns übergegangen sind. Damit können wir die längst fällige Gestaltung des Bären- und Waisenhausplatzes, des Helvetiaplatzes, des Tellplatzes oder der Schützenmatte angehen.
Wie viele Gartenstühle sind schon verschwunden?
Nur ganz wenige. Im ersten Jahr einer, danach kenne ich die Zahl nicht genau.
Hatten Sie Bedenken wegen Vandalismus?
Ja, deshalb haben wir mit wenigen Stühlen begonnen und sie zu Beginn nachts reingestellt. Weil das aufwendig war, liessen wir sie draussen, und es ist nichts passiert. Wir haben den Eindruck, dass die Bevölkerung mehr Sorge zum öffentlichen Raum trägt, wenn sie sich als Teil davon fühlt – oder wie beim Urban Gardening dafür verantwortlich ist.
Beim Urban Gardening verschwand aber Gemüse.
Stimmt. Die Betroffenen stellten daraufhin Schilder auf, und seither habe ich nicht mehr von Problemen gehört. Man musste sich an die Gartenbeete gewöhnen und das Konzept bekannt machen. Es gibt ja auch Städte, in denen die Verwaltung Urban Gardening betreibt und die Bewohner zum Pflücken auffordert. Bei uns funktioniert es anders.
Folgt die Bevölkerung Ihrem Aufruf, Park- und andere Plätze in Beschlag zu nehmen?
Auch hier wollen wir klein starten und die Initiative aus den Quartieren unterstützen. Wir haben mit Anwohnern am Graffenriedweg ein Parklet realisiert: Ein Parkplatz wurde vorübergehend zweckentfremdet. In der Zeughausgasse realisieren wir mit Bern-City Parklets. Bei der Monbijou-Haltestelle sorgten wir für Sitzplätze und Spielmöglichkeiten.
Im Länggassquartier nutzen Anwohner einen Kreisel zum Gärtnern.
Ja, wir finden, das soll möglich sein. Es ist aber immer ein Abwägen. Die Nachbarschaft darf nicht gestört werden, und wir wollen alle gleichbehandeln. Es dürfen keine exklusiven Orte entstehen.
Wer so etwas nachahmen will, kann sich also an Stadtgrün wenden?
Ja, die Bevölkerung soll merken, dass die Verwaltung Dinge möglich machen und nicht verhindern will. Nur so wendet man sich an uns. Von diesem Kulturwandel profitieren beide Seiten.
Wer ein Projekt realisieren will, klagt oft über viele Auflagen.
Klar: Es wohnen immer mehr Menschen in der Stadt, man muss Rücksicht nehmen, und je grösser das Projekt, desto höher die Auflagen. Unsere Projekte sind aber niederschwellig: Es sollen Aufforderungen sein, im öffentlichen Raum zu verweilen. Dazu gehört zum Beispiel ganz einfach, dass man sich setzen kann.
Sie haben mehr Sitzmöglichkeiten beim Bahnhof angekündigt.
Ja. Bern hat sehr viele Lokale, in denen man draussen sitzen und etwas trinken kann. Es braucht aber auch Platz für jene, die nicht konsumieren wollen. Nehmen Sie den Waisenhausplatz: Die Bänke bei den Bäumen sind immer sehr gut belegt, während es in den Lokalen nebenan oft noch freie Plätze gibt.
Wird dies nicht unerwünschte Gruppen anziehen?
In den öffentlichen Raum gehört die gesamte Bevölkerung – Vielfalt und Andersartigkeit machen doch gerade eine Stadt aus. Aber natürlich können wir das heute einfacher einfordern als in den 80er- oder 90er-Jahren, als es noch offene Drogenszenen gab. In anderen Städten habe ich gesehen, dass sich die unterschiedlichsten Leute nebeneinandersetzen, wenn das Angebot da ist.
Je nach Angebot werden aber Gruppen verdrängt.
Natürlich spricht nicht alle dasselbe Angebot an, deshalb sollen die Projekte ja auch so vielfältig wie möglich sein. Beim Projekt Pop-up ist die Bedingung, dass niemand ausgegrenzt werden darf.
Mit temporären Schliessungen bei der Mittelstrasse oder mit vorübergehenden Parkplatzaufhebungen schliessen Sie Autofahrer aus.
Nein. In den letzten zehn Jahren ist der Autoverkehr in Bern deutlich zurückgegangen. Dadurch ist Raum frei geworden. Eine vollständige Sperrung der Mittelstrasse würden wir nicht akzeptieren, aber wenn ein Teilstück an einigen Abenden gesperrt ist, wird für Autofahrer nur eine kleine Umfahrung nötig.
Was sagen Sie zum Vorwurf, dass linke Städte mit der Aufwertung des öffentlichen Raums zu steigenden Mieten beitragen?
Mir fehlt der Beweis, ich kenne keine Herleitung, die das zeigt. Einen offensichtlichen Zusammenhang mit steigenden Mieten hat vielmehr der fehlende städtische Wohnungsbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun fehlt das Angebot an günstigem Wohnraum. Nehmen wir Wien: Dort setzte man dauerhaft auf städtischen Wohnungsbau und wertete gleichzeitig den öffentlichen Raum auf: Die Mieten sind bezahlbar geblieben.
Gemeinderätin der Stadt Bern, zuständig für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün