Ein Problemquartier sucht die Wende

Besuch im Kleefeld

Sanierungsstau und schleichende Entmischung: Das Kleefeld ist die Berner Grossüberbauung mit den drängendsten Problemen. Bewohnerinnen und Bewohner wollen das ändern.

von Carole Güggi (Text), Adrian Moser und Ruben Wyttenbach (Bilder). Umsetzung: Carlo Senn

Mit dem 7er-Tram Richtung Bümpliz, an der zweitletzten Station hinaus. Das Tor zum Quartier beginnt mit einer Entsorgungsstelle. Dahinter eine Kita. In die Strasse einbiegen zur Mädergutstrasse 5, dort steht eine Wand aus Beton. Eines der vielen Hochhäuser im Quartier Kleefeld im westlichen Stadtteil Berns. «Die Planung des Quartiers ist schiefgelaufen», sagt Hans Stucki. Der Bümplizer, der 20 Jahre lang die Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem präsidierte, hält nicht viel vom Kleefeld. Viel zu wenig sei beim Bau Ende der 1970er-Jahre auf das Umfeld geachtet worden. «Im Kleefeld fehlt der Gemeinsinn.» Ein Quartierverein existiere nicht.

Ist wirklich alles so schlimm? Mit 3708 Einwohnern ist das Kleefeld das grösste Quartier im Stadtteil 6. Es ist geprägt von viel Beton, in die Jahre gekommenen Hochhäusern mit bis zu 17 Stockwerken. Insgesamt gibt es im Kleefeld 1695 Wohnungen, teils in schlechtem Zustand. Die meisten, nämlich 642, sind 3-Zimmer-Wohnungen. Während in Brünnen schon längst das Westside aufgezogen wurde, im Tscharnergut und im Gäbelbach die grossen Überbauungen saniert werden, passierte im Kleefeld seit den 1970er-Jahren praktisch nichts.

«Die Planung des Quartiers ist schiefgelaufen»

Ursula Zimmerli sitzt auf der Eckbank im Wohnzimmer ihrer 3-Zimmer-Wohnung. Die 66-Jährige wohnt seit 2005 im Parterre des 12-stöckigen Hochhauses an der Wangenstrasse. Die Wände sind vergilbt. In der Küche steht ein Gasherd. Er funktioniert nicht. Stattdessen hat sich Ursula Zimmerli einen mobilen Elektroherd gekauft, wie ihn Camper benutzen. Die Verwaltung wolle nicht sanieren, sagt sie. «Die renovieren erst, wenn ich ausziehe.»

Sanierungen würden die Miete in die Höhe treiben – was Ursula Zimmerli aber nicht bezahlen könnte. Auch für «Mister Bümpliz» Hans Stucki ist klar, dass die Eigentümer – es sind im Kleefeld 160 an der Zahl – die Verantwortung für den schlechten Zustand der Häuser tragen. «Die Haus- und Stockwerkeigentümer haben mit dem Quartier nichts am Hut. Solange die Miete bezahlt wird, investieren sie nichts in die Aufwertung», sagt er. Kritik an der Bauweise kam allerdings schon damals, als die Bauten hochgezogen wurden, wie Dieter Schnell, Dozent für Architekturgeschichte an der Berner Fachhochschule und an der Uni Bern, weiss (siehe Interview). Weil es möglichst billig habe sein müssen, sei auch bei den Anlagen für die Quartierbevölkerung gespart worden: «Je später die Siedlung gebaut wurde, desto schlechter sind die Gemeinschaftsanlagen.»

«Forderungen aus dem Quartier wurden nur bedingt aufgenommen»

Häuser, Bausubstanz

Punkto Gemeinschaftsanlagen geht es nun zumindest bei der Schule vorwärts. Das Schulhaus aus dem Jahr 1971 im Zentrum des Quartiers wird abgerissen und neu gebaut. Die Stadt plant für rund 60 Millionen Franken einen Neubau mit zwei Turnhallen und Freizeitplätzen. Das Volk stimmt am 19. Mai darüber ab.

Dem Quartier reicht das aber nicht. Zumindest die Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem kritisiert, dass es die Stadt verpasst habe, mit dem Schulhausneubau eine attraktive Aufwertung des Kleefelds zu planen. «Forderungen aus dem Quartier wurden nur bedingt aufgenommen», sagt Rachel Picard, Geschäftsführerin der Kommission. Die Räume und Freizeitplätze seien zu einseitig auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet statt auf die gesamte Quartierbevölkerung.

Ganz überraschend kommt die Kritik nicht. Abgesehen von den rund 300 Kindern, die im alten Schulhaus vorerst noch lernen und spielen: Im Quartier überwiegt die Leere. Direkt neben dem Schulhaus steht das Chleehus. Seit 2015 ist das in markantem Rot gestrichene Quartierzentrum fast verlassen. Einzig ein Denner und eine Apotheke ziehen Bewohnerinnen und Bewohner an. Frühere Besitzerin war die reformierte Kirche. Über Jahre hinweg organisierte sie die Gemeinwesenarbeit im Stadtteil. Aus finanzieller Not musste das Haus an die Kirchgemeinde Bümpliz abgegeben werden. Beim Auszug vor vier Jahren wurde eine Zwischennutzung diskutiert. Diese kam aber nie zustande.

«Forderungen aus dem Quartier wurden nur bedingt aufgenommen»

Sozialarbeiter Christian Siegfried.

Sozialarbeiter Christian Siegfried.

«Das demokratische Denken fehlt»

Damit abfinden will sich die Quartierbevölkerung aber nicht. Stattdessen organisiert Mariette Neuhaus in der «Baracke» einige 100 Meter vom Chleehus entfernt Treffen, Beratungen, Spielgruppen und Bastelnachmittage. Mariette Neuhaus arbeitete während 28 Jahren als Sozialarbeiterin bei der Kirche – Ende April wird sie pensioniert. Eine Nachfolge ist bereits geplant, unterstützt von der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit (VBG). Die VBG-Mitarbeiterin Brigitte Schletti hat im Chleehus ein Büro eingerichtet, um die Bevölkerung für Projekte und Aktivitäten zu vernetzen. Neuerdings ist auch eine Interessengemeinschaft von zwölf Quartierbewohnern aktiv, die sich vorgenommen hat, die Probleme und Herausforderungen des Kleefelds selber anzupacken.

Geblieben ist im Untergeschoss vom Chleehus der Jugendtreff Speedy. Hier spielen an immerhin zwei Nachmittagen pro Woche Jugendliche Billard, hören Musik oder fordern sich am Töggelikasten heraus. Es ist der einzige Ort im Quartier, wo sich Jugendliche ohne Konsumzwang treffen können. Mitunter tauchen einige Jugendliche bereits eine Stunde vor Türöffnung auf: Da beide Eltern arbeiten, wollen sie nicht allein zu Hause sein. Doch wie gern die 9- bis 17-Jährigen überhaupt in den Jugendtreff kommen wollen, ist ein andere Frage. Denn im Kleefeld bleiben – das will ohnehin fast niemand. «Wenn ich Kinder habe, sollen sie nicht hier aufwachsen», sagt ein 16-Jähriger, dessen Mutter einst in die Schweiz, nach Bern ins Kleefeld, migriert ist. Am liebsten wolle  er weg: «Nach Thun, an den See.»

«Wir wollen auf den rumliegenden Abfall aufmerksam machen»

«Ich hoffe, dass hier ein
neuer Quartiertreff entsteht»

Der Ausländeranteil im Kleefeld beläuft sich auf 41,5 Prozent. In der gesamten Stadt beträgt er rund 25 Prozent. Das macht das Kleefeld multikulturell. Der grösste Teil der Menschen stammt aus den klassischen europäischen Auswanderungsstaaten Italien, Portugal, Spanien und Türkei. Doch der Anteil afrikanischer und asiatischer Familien nimmt zu. Und dies in jenem Stadtteil, in dem andererseits die SVP in der ansonsten links-grünen Stadt Bern den grössten Wähleranteil hat – und in dem der SVP-Hardliner Erich Hess seit Anfang Jahr das Restaurant Kleefeld führt. Geht es nach dem rechtsbürgerlichen Politiker, soll das Kleefeld aber sehr wohl integrativ wirken: «Ich hoffe, dass hier ein neuer Quartiertreff entsteht», sagt Hess

Doch wie steht es mit der Durchmischung? «Es wohnen fast keine Schweizer Familien mehr hier», sagt die 66-jährige Ursula Zimmerli in ihrer Parterrewohnung, die im Hochhaus schon viele Mieterwechsel miterlebt hat. Das sei schlimm. Denn für eine Integration brauche es Schweizer und Ausländer. Auch Christian Siegfried, der Jugendarbeiter im Speedy, stellt eine mangelnde Durchmischung bei den Jugendlichen fest: «Es gibt Gruppen, die nur wenig miteinander sprechen», sagt er.

Khadija Jamaac kann mit dem Vorwurf der mangelnden Durchmischung nicht viel anfangen. Die gebürtige Somalierin lebt seit 2005 im Kleefeld, direkt gegenüber dem Chleehus. Die Mutter von vier Kindern trifft «regelmässig» ihre Nachbarinnen und Nachbarn zum Kaffee, wie sie sagt. Geholfen hat dabei auch der der Treffpunkt «Frauenwelt», den die langjährige Sozialarbeiterin Mariette Neuhaus bereits in den 1990er-Jahren aufgebaut hatte. Ein Treff, organisiert für Frauen mit Migrationshintergrund. Der Schweizerin Neuhaus ging es darum, Frauen wie Khadija Jamaac zu zeigen, dass sie hier, in der Schweiz, ihre Meinung frei äussern dürfen. Für viele Frauen, die teils aus nicht demokratischen und patriarchalisch strukturierten Länder stammen, sei die Kultur in der Schweiz Neuland. «Das demokratische Denken fehlt», sagt Neuhaus. Besonders Migrantinnen müssten zuerst lernen, sich einzumischen. 

Doch ein Quartierverein

Einmischen will sich nun im gesamten Quartier verstärkt auch die neue IG, bei der neben der Rentnerin Ursula Zimmerli auch Khadija Jamaac mitmacht. Das erste Projekt heisst: «Sauberes Kleefeld». «Wir wollen auf den umherliegenden Abfall aufmerksam machen», sagt Ursula Zimmerli. Vor ihrem Balkon hat die Rentnerin schon einiges gefunden – Zigarettenstummel, Spielsachen, leere Chipstüten und sogar Unterhosen. So könne das nicht weitergehen. Was genau die IG plant, wollen die Frauen aber noch nicht verraten.

«Der Fokus lag darauf, viele Wohnungen zu bauen - mehr nicht»

Dieter Schnell, Dozent für Architekturgeschichte, sagt, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg froh war neuen Wohnraum zu erhalten.

Mit dem Anstieg des Wohlstands stiegen die Ansprüche jedoch stetig.

«Der Fokus lag darauf, viele Wohnungen zu bauen – mehr nicht»

Dieter Schnell, Dozent für Architekturgeschichte, sagt, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg froh war neuen Wohnraum zu erhalten. Mit dem Anstieg des Wohlstands stiegen die Ansprüche stetig.

Herr Schnell, der Bau des Kleefelds wurde Ende der 1960er-Jahre begonnen. Zu Beginn galt die Siedlung als modern und attraktiv. Heute hat sie ein schlechtes Image. Was ist passiert?

Das mag für die frühen Siedlungen richtig sein. Beim Kleefeld vermute ich, dass bereits zu Beginn gewisse Kritik geübt worden ist. Dabei ist es allen Grosssiedlungen ähnlich ergangen. Kritik am modernen Massenwohnungsbau kam bereits in den 1960er-Jahren auf. Spätestens in den 1970er-Jahren war diese Ablehnung weit verbreitet. Mehr und mehr machte sich die Meinung breit, Grosssiedlungen seien eintönig und menschenunwürdig.

Wie äusserte sich diese Kritik?

1964 veröffentlichte der Journalist Wolf Jobst Siedler das Buch «Die gemordete Stadt». Darin zeigte er anhand von Bildern die modernen Siedlungsbauten in Deutschland und kritisierte sie heftig. Ein Jahr später erschien ein Buch des Psychiaters Alexander Mitscherlich, der darin behauptete, moderne Städte seien nicht nur hässlich, sondern machten auch krank. Als die 68er aufkamen und die Stimmung rebellischer wurde, war sowieso klar, dass man sich gegen alles zur Wehr setzte. Breit gefächert war die Kritik schliesslich, als 1970 sogar in der Frauenzeitschrift «Annabelle» ein Artikel über die angeblichen Schreckbauten in Spreitenbach erschien.

Das Kleefeld war eine der letzten Siedlungen in Bümpliz. Sie wurde 1978 vollendet. Da hätte man doch schon von dem Unmut gewusst?

Dieser wurde aufgenommen. Die unterschiedlichen Höhen der Hochhäuser, sogenannte Abtreppungen, weisen darauf hin. Die Architekten versuchten so, Variation hineinzubringen. Und nicht die Kisten zu bauen, die längst als «Kaninchenställe» diffamiert wurden.

Das Erscheinungsbild wirkt monoton.

Es waren durchaus zögerliche Versuche. Aus Kostengründen wurden überall dieselben Fenster, Türen und Eingänge gebaut. Auch wenn im Kleefeld kein reiner Plattenbau steht, galt die serielle Massenproduktion immer noch als Vorbild.

Stimmen aus dem Quartier kritisieren fehlende Gemeinschaftsräume.

Nach der Erdölkrise 1973 hatte die Baubranche zu kämpfen. Das Geld fehlte. So lag der Fokus darauf, die vielen Wohnungen zu bauen – mehr nicht. Bei den Aussenanlagen wurde gespart. Allgemein zeigt sich in Bümpliz: Je später gebaut wurde, desto kleiner und kostengünstiger die Gemeinschaftsanlagen.

Ist denn die Forderung aus dem Quartier nach Gemeinschaftsanlagen neu?

Beim Bau war das sicher ein Thema. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte Mangel an Wohnraum. Da war man froh, Platz für mehrere Tausend Leute zu schaffen. Galt es in den 1950er-Jahren als Luxus, sich eine Wohnung mit Zentralheizung, fliessendem Wasser und eigener Dusche leisten zu können, reichte das zehn Jahre später nicht mehr. Mit dem Anstieg des Wohlstands stiegen die Ansprüche stetig.

Das Kleefeld wurde in drei Etappen erbaut. Das Quartierzentrum kam als letztes dazu. War das eine Reaktion auf die Nachfrage an Gemeinschafts­anlagen?

Das ist schwierig zu sagen. Ich nehme aber an, dass die Bewohnerinnen und Bewohner Druck gemacht haben. Dass sie nun verlangten, was ihnen versprochen worden ist.

Lief das in anderen Quartieren in Bümpliz auch so?

Nein. Im Tscharnergut wurde noch sorgfältig darauf geachtet, sozial verbindende Elemente in die Siedlung einzubauen. Sei das eine Bibliothek, ein Restaurant oder ein Spielplatz. Doch die Angst, vor sozialen Probleme in den Grosssiedlungen, nahm schnell ab.

Wurde denn im Kleefeld schlecht geplant?

Ganz im Gegenteil. Ich behaupte sogar, Bümpliz sei der meistgeplante Ort im Kanton.

Inwiefern?

Bei Quartieren wie dem Kleefeld sieht man das besonders schön. Es wurde so konzipiert, dass die Menschen in der Siedlung alles haben, was sie brauchen. Einen Einkaufsladen, ein Restaurant, eine Schule, sodass ein Kleefelder ausser für den Beruf im Kleefeld bleiben kann.

Die Häuser im Kleefeld sind in schlechtem Zustand. Woran liegt das?

Vor allem an der damals gängigen Bauweise und dem Beton. Dieser ist in schlechter Verfassung. Im vergangenen Jahrhundert meinte man, Beton sei für die Ewigkeit. Doch ziemlich schnell zeigte sich, dass diese Ewigkeit viel kürzer ist als erwartet. Kommt hinzu, dass die heute gängigen Anforderungen in Bezug auf Wärmedämmung, Haustechnik und Erdbebensicherheit enorm viel höher sind als vor 40 Jahren.

Warum wird denn heute immer noch nichts gemacht?

Will man eine Wohnung den heutigen Standards anpassen, ist das sehr aufwendig. Beim Bau des Kleefelds wurde zum Beispiel überhaupt nicht auf Energieeffizienz geachtet. Das zu verbessern kostet sehr viel Geld, was wiederum die Mieten erhöhen würde. Solange dank der tiefen Mietzinsen die Wohnungen gefragt sind, entsteht kein Druck. Ob die nach einer Sanierung teureren Wohnungen auch noch Mieter finden würden, ist jedoch ungewiss.

Dieter Schnell
Dozent für Architektur­geschichte an der
Berner Fachhochschule
und an der Universität

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