«Kandersteg kann es sich nicht leisten, nichts zu wagen»

Die Gemeinde Kandersteg wird morgen Freitag deutlich für Olympische Winterspiele im Dorf stimmen. Alles andere wäre eine enorme Überraschung.

von Marc Lettau

Eigentlich macht das Wetter dieser Tage vieles klar. Im Verlauf des Vormittags schält sich jeweils die Blümlisalp aus den Wolken, und im Gegenlicht glitzern dann der stiebende Staubbach und die Wasserfälle an der Doldenhornflanke. Zudem sind die Wiesen hier, wo die Loipen im Winter bis ins Dorf reichen, blumiger als jene auf den handelsüblichen Kandersteger Postkarten. Das Ensemble von Wolken und Gipfeln wirkt überdies, als wärs von Hodler gemalt. Wäre an der Gemeindeversammlung von morgen allein das Bild ausschlaggebend, lautete das Urteil klar: Kandersteg strahlt olympisch. Aber so verwöhnt das Auge, so gestört das Ohr. Erstens beschallen Kampfjets der Armee den Talkessel eindringlich. Und zweitens dringt ein zweifelndes «Olympia?» aus Ursula Jäggis Lädeli.

Ein erstes Volksverdikt zu Sion 2026

Nach dem Ja des Bundesrats zum Beitrag von knapp einer Milliarde Franken an Sion 2026 ist nun das Volk am Zug. Noch vor dem Walliser Souverän, der am Sonntag abstimmt, können sich morgen Freitag die Kanderstegerinnen und Kandersteger äussern: Sie entscheiden an ihrer Gemeindeversammlung über einen Kredit von 1,2  Millionen Franken zugunsten baulicher Massnahmen bei der Nordic Arena, wo die Kandersteger Sprungschanzen stehen. Nötig ist etwa der Ausbau der Zufahrtsstrasse. De facto ist die Abstimmung ein Olympia-Plebiszit: Sagt das Volk Nein, ist Kandersteg nicht länger Teil des Olympiaprojekts. Dann würde sich wohl Engelberg für die in Kandersteg geplanten Wettkämpfe zur Verfügung stellen. Sorge bereitet der Gemeinde Kandersteg, dass wegen des Olympiakredits andere Aufgaben zurückgestellt werden müssten. Verkraften kann die Gemeinde Investitionen von 600 000 Franken pro Jahr.

Ein zweifelndes «Olympia?» dringt aus Ursula Jäggis Lädeli.

Verstrickt im Wolllädeli

Im Lädeli, flankiert von Strickgarn in allen Farben, führen die Ladenbesitzerin Ursula Jäggi und die Kundin Edith Gertsch nämlich gerade die olympische Grundsatzdebatte. Gertsch ist in der Rolle der Zweiflerin. Sie findet die Eigenheiten der olympischen Maschinerie abstossend. Schon viele Orte hätten Olympische Spiele ausgerichtet. Aber praktisch keiner habe seine Nachhaltigkeitsversprechen halten können. Ursula Jäggi kontert mit offenem Visier: «Kaum erhält Kandersteg eine Chance, wird sie bereits verteufelt.» Sie habe das Neinsagen satt: «Ich bin Patriotin im höchsten Grad», und als solche wolle sie, «dass das Dorf lebt». Gertsch kontert: «Olympia führt nicht zu der sanften Entwicklung, die Kandersteg braucht.» Jäggi bleibt dabei: «Nichts tun geht nicht.»

«Wir müssen unbedingt zur Innovationskraft zurückfinden und das innere Feuer entfachen.»

Auf die Alten könne man bei der Kandersteger Olympiaabstimmung zählen, sagt Hermann Ogi, der im Hinblick auf die Gemeindeversammlung extra noch zum Coiffeur ging.

Auf die Alten könne man bei der Kandersteger Olympiaabstimmung zählen, sagt Hermann Ogi, der im Hinblick auf die Gemeindeversammlung extra noch zum Coiffeur ging.

Kristallklares Ja

Weiter dorfauswärts liest Hermann Ogi den «Walliser Boten». Er strahlt – und schweigt, weil der Lärm des vorbeirollenden Autozugs ohnehin kein Gespräch zuliesse. Kaum ist der Lärm verebbt, erklärt er seine Lektüre. Der Kandersteger fühle sich dem Walliser halt «auch mentalitätsmässig» näher als etwa dem Berner Seeländer. Zudem habe er, Ogi, jahrelang im Wallis gearbeitet. Ist er dort von der Olympiaskepsis infiziert worden? Im Gegenteil, sagt er: «Wir müssen unbedingt zur Innovationskraft zurückfinden und das innere Feuer entfachen.» Darum bereite er sich auf die Gemeindeversammlung vor. Erstens sei er eben beim Coiffeur gewesen – woran seine strahlend weisse Haartolle keinen Zweifel lässt. Zum anderen suche er im «Boten» nach Argumenten: «Ich will nämlich argumentieren, nicht polemisieren.» Einstehen will der Strahler und Mineralienhändler für ein kristallklares Ja. Sorgen machen ihm die Jungen: «Die ziehen nicht mehr so mit wie früher. Ich weiss gar nicht, ob sie überhaupt an die Gemeindeversammlung kommen.»

«Sie waren bei Ogi Hermann? Für uns ist er einfach der ‹Chrütter-Lümmel›!»

Jakob Jäggi würde seinen Honig gerne mit einer Olympiaetikette versehen. Ursula Jäggi wiederum wirbt in ihrem Wolladen als «leidenschaftliche Patriotin für die Entwicklung Kanderstegs und deshalb für die Olympiakandidatur.»

Jakob Jäggi würde seinen Honig gerne mit einer Olympiaetikette versehen. Ursula Jäggi wiederum wirbt in ihrem Wolladen als «leidenschaftliche Patriotin für die Entwicklung Kanderstegs und deshalb für die Olympiakandidatur.»

Honigsüsse Sportarena

«Sie waren bei Ogi Hermann? Für uns ist er einfach der ‹Chrütter-Lümmel›!» Jakob Jäggi, der das sagt, verweist sogleich auf den liebevollen Charakter des Übernamens und erklärt, er selber habe es eher mit den Blumen als mit den Kräutern. Jäggi ist nämlich Imker. Und er wirkt in der Nordic Arena mit, wo die Kandersteger Sprungschanzen stehen. Gegenwärtig ist Imker Jäggi daran, ein halbes Dutzend neuer Schwärme «einzulogieren». Er werde die Bienenkästen an den stotzigen Hängen der Nordic Arena platzieren: «Dann gibts Schanzenhonig.» Von ihm selbst gibts ein klares Olympia-Ja.

Die Anlage sei «die beste Europas und die einzige im Land, die sich im Sommer wie im Winter permanent nutzen lässt».

Kari Bieri, Hotelier und Verwaltungsratspräsident der Nordic Arena kennt das Kandersteger Hauptargument für die olympischen Winterspiele in- und auswändig.

Kari Bieri, Hotelier und Verwaltungsratspräsident der Nordic Arena kennt das Kandersteger Hauptargument für die olympischen Winterspiele in- und auswändig.

Da gehts flott bergab

In der Nordic Arena vermitteln das Zufahrtssträsschen und die zahlreichen Container den herben Charme des Provisorischen. Doch die beiden neusten und 2017 eingeweihten Schanzen sind das Kandersteger Argument Nr. 1, betont Hotelier Kari Bieri, der den Verwaltungsrat der Nordic Arena präsidiert. Die Anlage sei «die beste Europas und die einzige im Land, die sich im Sommer wie im Winter permanent nutzen lässt». Im Sommer flitzen die Springer über bewässerte Keramiknoppen die steile Anlaufspur hinunter auf den Schanzentisch zu. Im Winter sorgt die künstlich heruntergekühlte Spur dafür, dass permanent auf dem winterlichen Element Eis trainiert werden kann: «In Engelberg ist das nur an etwa zehn Tagen im Jahr möglich.»

Sprungschanzen, die Massstäbe setzen

Voraussichtlich vier Wettkämpfe können in Kandersteg ausgetragen werden, sollte die Kandidatur Sion 2026 aufrechterhalten werden – und auch den Zuschlag erhalten: das Springen auf der Normalschanze sowie die Nordische Kombination (Langlauf und Schanzenspringen) jeweils für Männer und Frauen. Die bestehenden Kandersteger Schanzen für Sprungweiten bis 74 Meter und bis 104 Meter sind bereits als olympiatauglich zertifiziert. Sie gelten als technisch auf dem neusten Stand, sind sommers wie winters benutzbar und dienen dem Nachwuchs wie auch Spitzenathleten für Trainings. Gebaut werden müsste für Sion 2026 ein neuer Sprungrichterturm. Mit ihren Schanzen, «die europaweit Massstäbe setzen», empfehle sich Kandersteg bestens als «Zuhause der nordischen Disziplinen», sagt Kari Bieri von der Nordic Arena. Sie führt für den Nachwuchs auch eine Schanze für Weiten bis 30 Meter und eine Anlage für ganz kleine Hüpfer.

Sommers wie winters ist dies der Blick, den nur Athletinnen und Athleten kennen: Der Startbereich der grössten Kandersteger Schanze.

Sommers wie winters ist dies der Blick, den nur Athletinnen und Athleten kennen: Der Startbereich der grössten Kandersteger Schanze.

Das Zusatzmotiv der Kandersteger für olympische Spiele im eigenen Dorf ist das Konkurrenzverhältnis zu Engelberg. Ziehen sich die Kandersteger zurück, muss Engelberg einspringen und ausbauen. Kandersteg würde abgehängt.

Das Zusatzmotiv der Kandersteger für olympische Spiele im eigenen Dorf ist das Konkurrenzverhältnis zu Engelberg. Ziehen sich die Kandersteger zurück, muss Engelberg einspringen und ausbauen. Kandersteg würde abgehängt.

Verflixtes Engelberg

Engelberg! Wer in Kandersteg diesen Ort nennt, muss damit rechnen, dass das Gegenüber erst einmal tief durchatmet. Engelberg ist der Konkurrent. Engelberg liefert auch Olympiazweiflern einen Grund, an der Gemeindeversammlung für die Spiele zu stimmen. Gemeindepräsident Urs Weibel sagt es so: Steige Kandersteg aus dem Olympiaprojekt aus, dann steige Engelberg ein. Daraufhin entstehe dort eine Schanze vom gleichen Typ, wie sie bereits in Kandersteg stehe: «Dann gäbe es schweizweit schlicht eine solche Schanze zu viel.» Für Kandersteg wäre das schlecht.

Nun gehts in der Nordic Arena den Hang hinauf mit dem Bähnchen, dessen Kabine winzig und zugleich überhoch ist, weil sonst die langen Sprungski keinen Platz fänden. Oben angelangt, präsentiert sich Kandersteg in seiner ganzen Überschaubarkeit. Man ist geneigt zu sagen: in seiner Kleinheit. Könnte dieses Dorf den olympischen Trubel verkraften? Bieri zweifelt nicht daran. Es gelte, die Sache zu relativieren. Kandersteg sei nur für die nordische Kombination vorgesehen: «Wir rechnen mit 10 000 Zuschauern. Das sind viel weniger als die 30 000, die stets an die Weltcuprennen nach Adelboden pilgern.»

In der Kandersteger Molkerei Hari weiss Franziska Holzer hinter der Käsetheke auf Anhieb, was sie den Gästen der olympischen Spiele am liebsten verkaufen würde: Kandersteger Mutschli.

In der Kandersteger Molkerei Hari weiss Franziska Holzer hinter der Käsetheke auf Anhieb, was sie den Gästen der olympischen Spiele am liebsten verkaufen würde: Kandersteger Mutschli.

Klares Ja, diskretes Aber

Wo sind eigentlich die Gegner? Weder im Weecheli noch im Chappeli noch auf der Bundesrat-Adolf-Ogi-Strasse will jemand ein Nein zu Protokoll geben. Immerhin folgt auf ein «im Prinzip Ja» auch einmal ein diskretes Aber: Aber vielleicht ist alles eine Nummer zu gross. Aber vielleicht können wir uns das nicht leisten. Aber vielleicht verdirbt das IOK am Schluss mit seinem Grössenwahn alles. Aber vielleicht wollen die Jungen so etwas gar nicht. – Zumindest darauf gibts im Schneeglöggli eine klare Antwort. Im Haus Schneeglöggli geschäftet die Käsereihandlung Hari, und dort betont Franziska Holzer an der Käsetheke: «Die Jungen sind klar dafür.» Sie, die zu ihnen zählt, sagt: «Das packen wir.» Natürlich lasse sich werweissen, was olympische Spiele Bleibendes hinterliessen. Aber «etwas selber erlebt zu haben», sei halt auch ein bleibender Wert.

Kandersteg ist nicht überall auf Hochglanz. Hier, bei zerfallenden Hotel Royal Park Hotel, bättert derzeit alles Royalistische ab.

Kandersteg ist nicht überall auf Hochglanz. Hier, bei zerfallenden Hotel Royal Park Hotel, bättert derzeit alles Royalistische ab.

Royaler Scherbenhaufen

«Wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen, dass wir uns das nicht leisten können.» Das ist ein Zitat des Gemeindepräsidenten, an dem sich Ursula Jäggi reibt. Sie sieht es ganz anders: «Kandersteg kann es sich nicht leisten, nichts zu wagen.» Gleichwohl liegen zwischen den beiden nicht Welten, zumal Olympia immer auch für eine Stellvertreterdebatte steht. Beide sagen nämlich: Kandersteg fehlt heute das starke Wir-Gefühl. Dazu trägt bei, dass 480 der 1000 Kandersteger Wohnungen Zweitwohnungen sind. Unter den Zuzügern sind zudem viele Seniorinnen und Senioren. Ihnen ist oft der unverbaute Blick auf die Blümlisalp Glück genug.

Dazu kommt, dass zerfallende Bauten wie das einstige Nobelhotel Royal Park mitten im Dorf eher für Agonie als für Aufbruch stehen. Jäggi sagt: «Gleichwohl erklären uns ausgerechnet Zuzüger, dass wir die Spiele nicht brauchen.» Weibel sagts diplomatischer: «Wenn wir bestehen wollen, müssen wir die Zweitwohnungsbesitzer ins Boot holen und dafür sorgen, dass auch junge Familien hierher ziehen.» Mit einem Durchschnittsalter von «um die 50» ist Kandersteg nämlich eine vielleicht sportliche, aber sicher keine juvenile Gemeinde. Weibel kann gleichwohl nicht vorbehaltlos fürs olympische Projekt werben: «Ich stehe dazu, dass ich mich primär mit der Tragbarkeit der Spiele aus Sicht der Gemeinde auseinandersetzen muss.»

«Sagt Kandersteg Ja, wird die Gemeinde, die ja auch vom Tourismus lebt, von der unbezahlbaren Kraft der Olympischen Spiele profitieren.»

Die Parole des Ehrenbürgers

Freier fühlt sich da der Kandersteger Ehrenbürger und Alt-Bundesrat Adolf Ogi. Er hat hier den Part des zuversichtlichen Mutmachers inne. Kandersteg biete sich eine «Jetzt-oder-nie-Chance»: «Sagt Kandersteg Ja, wird die Gemeinde, die ja auch vom Tourismus lebt, von der unbezahlbaren Kraft der Olympischen Spiele profitieren.» Ein Nein hingegen würde im Rest der Schweiz bloss Kopfschütteln auslösen: «Man würde sich fragen, warum die Kandersteger in Europas modernste Sprungschanze investieren und sie dann im entscheidenden Augenblick nicht anbieten wollen.» Bewältigbar seien die Spiele für Kandersteg alleweil. «Angst muss da wirklich niemand haben, denn Kandersteg hat eine Nebenrolle inne, allerdings eine sehr schöne.»

Das hiesige Mutschli sei allein schon deshalb das beste, «weil es von hier ist»

Kauft Käse, kauft Honig

Auf die Alten werde man zählen können, sagt «Chrütter-Lümmel» Hermann Ogi, aber eventuell nicht auf die Jungen. Falsch, sagt Franziska Holzer: Auf die Jungen dürfe man zählen, bei den Älteren hingegen sei das ungewiss. Wenn die Älteren den Olympiaeifer der Jungen unterschätzen und die Jungen die Olympiaskepsis der Älteren überschätzen, bleibt für morgen ein klares Ja als einziges mögliches Resultat. Es wird Freude herrschen. Zumindest bis am Sonntag, wenn das Ergebnis der Walliser Olympiaabstimmung publik wird.

Falls es auch dort klappt, ist Kandersteg parat. In der Käsehandlung im Haus Schneeglöggli würde man dann gerne mehr Kandersteger Mutschli verkaufen, sagt Franziska Holzer. Das hiesige Mutschli sei allein schon deshalb das beste, «weil es von hier ist». Imker Jäggi wiederum hofft im Fall des Zuschlags auf besonders fleissige Bienen. Für 2026 würde er «etwas mit Olympia» in die Etikette seiner Honiggläser integrieren.

Impressum

Text: Marc Lettau
Fotos: Adrian Moser und Samuel Schalch
Umsetzung: Céline Rüttimann

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Text: Marc Lettau
Fotos: Adrian Moser und Samuel Schalch
Umsetzung: Céline Rüttimann

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