Deutschrap sein korrekter Cousin

Einblick in die Berner Rap-Szene

In Deutschland dominieren Rapper Hitparade wie Schlagzeilen. Auch in Bern hat sich wieder eine junge, lebendige Szene etabliert, die «Strasse» sein will und auch gerne mal provoziert.

Aber die Strassen Berns sind halt nicht die Strassen Berlins.

von Fabian Christl


Schützenmatte, viel Beton. Das Konzert des Wiener Rappers Yung Hurn musste in die Grosse Halle verlegt werden, nachdem der Dachstock innert 45 Minuten ausverkauft war. Die ersten Fans standen bereits 6 Stunden vor Türöffnung Schlange, um später reihenweise zu kollabieren. Im Westen nichts Neues, mag man einwenden, aber Yung Hurn ist weder Rockstar noch Boygroup, sondern Vertreter des leicht schmuddeligen Genres namens Deutschrap.

Dessen Siegeszug erfolgte weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Nun ist er aber nicht mehr zu übersehen. Gefühlt jedes zweite Lied der deutschen Hitparade lässt sich dem Genre zuordnen, und mit keinem Musikstil wurde 2018 mehr Geld umgesetzt. «Hip-Hop hat sich in den letzten Jahren zum relevantesten Musikstil überhaupt entwickelt», sagt Elia Binelli, Chefredaktor des Hip-Hop-Magazins «Lyrics» (Interview unten).

Das ging auch an Bern nicht spurlos vorbei. Bald 20 Jahre nach den ersten Erfolgen von Baze, Wurzel 5 und PVP (Zur Geschichte des Berner Rap: Text unten) ist in der Bundesstadt wieder eine junge, lebendige Hip-Hop-Szene entstanden. Geht es nach Binelli, einem Winterthurer, handelt es sich dabei um die «interessanteste» Szene der Schweiz. Doch wie tickt sie? Was treibt sie an? Und wer sind die Akteure?


Die «Bund»-Youtube-Playlist versammelt die Musik der Protagonisten im Text.

Zigis verboten, Joints erlaubt

City West, viel Beton. Ein Seiteneingang führt in ein leicht heruntergekommenes Gebäude, der Lift drei Stockwerke Richtung Untergrund. Einen Gang, eine Abzweigung und eine Bunkertür weiter befindet sich das Reich von Dave Gumede alias Mac Daddy von der Teiler-Gang. Es ist eine Mischung aus Aufnahmestudio, Bandraum und Jugendtreff, doch es gelten eiserne Regeln: Zugelassen ist nur, wer sich ernsthaft der Musik widmen will. Und: Gewöhnliche Zigaretten werden im Vorraum geraucht – in den Innenräumen sind nur Joints erlaubt.

Mac Daddy, der seine kurz geschorenen Haare immer mal wieder in einer anderen Farbe trägt, ist mit seinen 33 Jahren schon ein Urgestein der Szene. In seinen Videos spielt er gerne auf sein Alter an. Zwar posiert er klassisch mit teurem Auto und vermummter Gang, diese ist aber mit Rollator und Krücke statt mit Eisenstangen bewaffnet.



Zum Fürchten ist die Szenerie in seinem Keller denn auch nicht. Die Stimmung ist gelöst, man raucht, trinkt, chillt, schreibt Texte, übt sich im Freestylen und spricht auch mal über Politik: «Hast du gehört, der neue brasilianische Präsident hetzt gegen Schwarze, Frauen und Schwule!» – «So ein Hurensohn.»

Mac Daddy, ein Urgestein der Berner Rapszene.

Mac Daddy, ein Urgestein der Berner Rapszene.

DJ Beatpoet in Mac Daddys Keller.

DJ Beatpoet in Mac Daddys Keller.

Zu Mac Daddy ins Studio kommt nur, wer es wirklich ernst meint, mit der Musik.

Zu Mac Daddy ins Studio kommt nur, wer es wirklich ernst meint, mit der Musik.

Grosses Spektakel

Deutschsprachiger Rap war in den Anfangszeiten ein Mittelschichtsphänomen. Deutsche Jungs rappten lustige Texte für andere deutsche Jungs. Das ist heute anders. Das dominante Subgenre wird als Strassenrap bezeichnet und im Prekariat – gerne auch mit Migrationshintergrund – verortet. Auf Dinge wie politische Korrektheit wird nun gerne verzichtet. Umso wichtiger ist dafür die Authentizität der Rapper. Respektiert wird, wer aus einem Viertel stammt, in dem junge Männer nur entscheiden können, ob sie Opfer oder Täter werden wollen – und sich für letzteres entschieden hat.

Die Jungs in Mac Daddys Keller pflegen einen ambivalenten Zugang zu den deutschen Strassenrappern. Man hört ihre Musik, orientiert sich an ihrem Kleidungsstil und bewundert sie für ihre lyrischen Fähigkeiten. Aber mit solchen Typen rumhängen? Lieber nicht. Zwar wollen sie auch «Strasse» sein, aber die Strassen Berns sind nicht die Strassen Berlins. Hier werden schon Texte als «hart» bezeichnet, die dann doch nur vom Kiffen handeln. So identifizieren sich die jungen Rapper eher mit den Aushängeschildern der Berner Szene. Dazu gehört allen voran die Combo S.O.S. mit den Rappern Nativ und Dawill.

Street Dogg (l.) und Juri, hinten DJ Beatpoet.

Feministischer Macho

Europaplatz, viel Beton. Treffen mit Rapper Nativ. Bürgerlich: Thierry Gnahoré. Ein Hühne, dunkle Haut, ernste Miene, heisst es, und es stimmt ja auch. Richtig ist aber ebenso: Aufgewachsen in Niederscherli, KV-Lehre bei der SP, gearbeitet bei der Berner Stadtverwaltung, grosses Herz.

Nativs kürzlich erschienene Soloalbum Baobab chartete auf Platz 3 der Hitparade. Darin verarbeitet er etwa eigene Rassismuserfahrungen: «Du fragsch mi, werum ig mi immer ha schwärzer gfühlt aus wiis? S’isch ganz eifach, wägä euch.» Migration ist ein Thema, das ihn nicht nur in seinen Songtexten beschäftigt. Er engagierte sich auch für jugendliche Asylsuchende, die ohne Familienangehörige in die Schweiz geflüchtet sind, und bezieht Stellung gegen das geplante Ausschaffungszentrum in Prêles.

Thierry Gnahoré alias Nativ.

Thierry Gnahoré alias Nativ.

Nativ, das ist: Ernste Miene, grosses Herz.

Nativ, das ist: Ernste Miene, grosses Herz.

Dass Rapper sich gegen Fremdenfeindlichkeit aussprechen, ist keine Seltenheit. Hip-Hop und Rassismus, das passt nicht. Das negative Image des Genres rührt eher von den Texten voller Gewaltgeilheit, Statusfixierung und Sexismus. Das dürfe man nicht wörtlich nehmen, sagen die einen. Im Kern gehe es um Selbstermächtigung von Marginalisierten, um eine aufmüpfige Unterschicht, die nicht still buckelt, sondern einen Teil des Kuchens für sich reklamiert.

Andere zeigen auf Textzeilen, etwa des derzeit erfolgreichsten Deutschrappers Capital Bra. Der rappt etwa: «Wie ich das hasse, wenn die Schlampe einen auf Ehre macht. Aber nicht mit mir Kollege, ich leg die Schlampe flach.» Selbstermächtigung? Oder nicht doch eher Vergewaltigungsfantasien?

Chaotischer Ausrutscher

Nativ seufzt. Er kann mit solchen Zeilen nichts anfangen. Zwar habe auch er eine Macho-Seite in sich und in Vergangenheit Frauen nicht immer mit dem gebührenden Respekt behandelt. Doch es folgte auch eine Phase der Reflexion. Nun stört es ihn gewaltig, dass Frauen im Rap häufig als Objekt dargestellt werden. Und er vermisst klare Positionsbezüge von Rappern. «Im Hip-Hop wirkt man schwach, wenn man sich für Frauen starkmacht. Dabei braucht das doch die grössten Eier.»

Nativ in Ehren, doch handelt es sich dabei nur um eine Einzelmeinung? Die Frage drängt sich auf, schliesslich gab es durchaus einen Sexismus-Skandal in der Berner Rapszene, der sogar die Justiz beschäftigt. Als Corpus Delicti dient ein Song, indem die Zürcher SVP-Nationalrätin Natalie Rickli übelst beleidigt wird. Drei der fünf Urheber des Songs sind Teil der Chaostruppe, einem mittlerweile 15 Personen (14 junge Männer und Sophie) umfassenden Rap-Kollektivs aus dem Umfeld der Reitschule. Seither sitzt der Truppe eine «queer-feministische» Gruppierung – ebenfalls aus dem Umfeld der Reitschule – im Nacken, die über Social Media immer mal wieder zum Boykott der Rap-Combo aufruft. Die Chaostruppe selber betont, dass der Song von Einzelpersonen erstellt wurde und auch nie vom Kollektiv verbreitet worden sei.

Ein Blick auf das bisherige Schaffen der Chaostruppe-Mitglieder legt auch nahe, dass es sich beim Rickli-Song eher um einen Ausrutscher denn um System handelt. Auf Facebook positionieren sie sich gegen Sexismus und Homophobie und machen Werbung für feministische Demonstrationen. Und mit ihren Liedern versuchen sie, Jugendliche zu politischem Engagement zu animieren («Auso chum und mobilisier, d' Jungs u d' Modis i dim Quartier...»).


Chaostruppe - «Chum mir göh use!»

Als Vorzeigerapper taugen sie dennoch nicht. Vor allem wenn es um die Polizei geht, legen die Jungs ihre Zurückhaltung ab. Und auch Sophie geht gerne mal «mit agspitzte Stäcke, gah Nazis verbrätschä».

Ghetto Robin im Höhenflug

Als lyrisch und technisch bester Rapper der Chaostruppe gilt Migo. Er konnte mit seinem Soloprojekt zusammen mit Produzent Buzz bereits einen Charterfolg (Platz 4) feiern, obwohl er das Album gleich bei Veröffentlichung auch zum Gratisdownload anbot. In seinen Texten geht es häufig um das Sichzurechtfinden in einer als erzkapitalistisch empfundenen Welt, die seinen Idealen so fundamental widerspricht. Dabei inszeniert er sich – mal mit Witz, mal mit Wut, mal mit Sehnsucht und mal mit Melancholie – als «Ghetto Robin Hood», der sich – mal opponierend, mal als Teil des Übels – irgendwie durchzuschlängeln versucht. Ein Lebensgefühl, das so manchem zumindest aus jüngeren Jahren bekannt vorkommen dürfte.


Migo & Buzz - «Ghetto Robin Hood»

Brasserie Lorraine, alles ziemlich lieblich. Migo und Buzz haben sich (anders als die Chaostruppe als Kollektiv) zu einem Treffen in der linken Genossenschaftskneipe bereiterklärt. Unter zwei Bedingungen: Thema sei das Soloprojekt und nicht die Chaostruppe – schliesslich habe Migo mit Buzz (der nicht Teil der Chaostruppe ist) ganze drei Alben herausgegeben, mit der Chaostruppe hingegen nur drei Songs. Und: Ihre bürgerlichen Namen wollen sie, ganz Reitschule-sozialisiert, nicht in der Zeitung lesen.


Migo & Buzz: «Underground Heudä»

Doch dann stehen sie da, die beiden selbst ernannten «Underground Heudä», und plaudern freundlich und offen über ihre Leben. Migo, 27, aufgewachsen in der Lorraine, hat Soziokultur studiert und sich früher nach Polizeistunde vor den Clubs mit anderen Rappern gebattlet. Buzz, ebenfalls 27, aufgewachsen im Breitsch, hat Fotografie studiert und schon im Kindesalter erste Beats gebastelt. Und obwohl sie quasi zum Inventar von Berns linker Szene gehören, fühlen sie sich in erster Linie als Künstler. «Ich bin politischer Rapper, aber kein rappender Politiker», sagt Migo. Buzz pflichtet ihm bei: «Wenn Rap nur dazu dient, eine politische Botschaft zu verbreiten, tönt es meistens nicht so toll.»

Migo und Buzz, ganz Reitschule-sozialisiert, in der Brasserie Lorraine.

Migo und Buzz, ganz Reitschule-sozialisiert, in der Brasserie Lorraine.

In noch einem anderen Punkt ist Migo ganz der Rapper. Denn manchmal, sagt er, habe er keine Lust auf reflektierte Auseinandersetzungen über den Zustand der Welt. «Dann will ich einfach an ein Cypher gehen und den anderen Rappern zeigen, dass ich sie alle zerlegen kann.» Ein Cypher ist ein informeller Hip-Hop-Event, an dem sich Rapper treffen, um sich selber zu bejubeln und die anderen Rapper zu beleidigen.

Wer hat den Grössten?

Dachstock, Reitschule halt. Das Ultimate Battle steht an. Es ist ebenso ein Event, an dem Rapper Freestyle-Duelle austragen. Eine Jury bestimmt, welcher der beiden Kontrahenten den Gegner besser beleidigt hat und eine Runde weiterkommt. Zwei beliebte Sujets sind: Dem Gegner fehlende Authentizität vorwerfen oder ihm die Männlichkeit absprechen. Für die Reitschule, die sich den Kampf gegen Sexismus auf die Fahne geschrieben hat, ist so ein Anlass ein heikles Unterfangen. Sie hat sich deshalb etwas Besonderes überlegt: Zusätzlich zur normalen Jury gibt es eine «Schattenjury», die bei zu groben Verstössen gegen das Anti-Sexismus-Gebot die Möglichkeit hat, einen Rapper vom Anlass auszuschliessen. Clevererweise wurde die Jury unter anderem mit dem Berner Rapper Tommy Vercetti bestückt, der in der Rap-Szene wie auch in der linken Politszene respektiert wird.

Doch nicht alle Gäste goutieren sein Engagement. Nachdem ein Rapper ein paar Mal zu viel die Heterosexualität des Gegenübers (und der Schattenjury) angezweifelt hat, mahnt Vercetti zu Zurückhaltung: «Hey Jungs, chillets mou, ächt, chillets mou, eifach easy.» Ein Teil des Publikums reagiert mit Buh-Rufen. Einer schreit: «Das ist Rap.» In Vercetti kam dann tatsächlich der Rapper hoch. Er plusterte sich auf, zeigte auf einen Mann im Publikum und rief: «Du buhst mich aus? Du! Du buhst mich aus?»

Allzu fromm wird der Hip-Hop also auch hierzulande nicht werden. Dieses spielerische Wetteifern um den grössten Penis mag sich wenig förderlich auf die miese Frauenquote auswirken, ist aber eng mit der Geschichte des Musikstils verbunden. Und es gibt kaum ein Rapper – ob in Bern oder Berlin –, der sich nicht zumindest in einzelnen Tracks in diese Tradition stellt. Dies geschieht manchmal plump und menschenverachtend, manchmal aber kreativ, mit Witz und bisweilen gar Selbstironie. Migo, die Chaostruppe, Nativ und die Jungs aus Mac Daddys Keller haben sich für die zweite Variante entschieden. Meistens jedenfalls.


Rapper Tommy Vercetti: Respekt in der Rap-Szene als auch in der linken Politszene (Bild: zvg)


«Im Hip-Hop zeigen sich Probleme ungefiltert»

«Lyrics»-Chefredaktor Elia Binelli hofft, dass die zahlreicher werdenden Rapperinnen ihre männlichen Kollegen zähmen.

mit Elia Binelli sprach Fabian Christl

Herr Binelli, das «Lyrics»-Magazin hat kürzlich eine Sonderausgabe zu Gewalt, Drogen, Sexismus und Antisemitismus im Hip-Hop herausgegeben. Was war der Auslöser?
Hip-Hop hat sich in den letzten Jahren zum relevantesten Musikstil überhaupt entwickelt. Er prägt derzeit eine ganze Generation – vom Kleiderschrank bis zur Hitparade. Zudem häuften sich negative Schlagzeilen mit Bezug zu Hip-Hop. Leider findet die Auseinandersetzung aber vornehmlich auf Boulevard-Niveau statt. Dies nicht zuletzt, weil sich die Hip-Hop-Szene selber häufig scheut, auch kritische Debatten zu führen. Aufgrund der gestiegenen Relevanz halten wir das aber für unabdingbar.

Auf dem Cover der Sonderausgabe steht gross die Frage: Hat Rap ein Problem? Wie lautet die Kurzantwort?
Das muss jeder Leser für sich selber herausfinden. Das Ziel der Ausgabe war, viele unterschiedliche Perspektiven reinzubringen. Meiner Meinung nach ist aber klar, dass man Rap nicht losgelöst von der Restgesellschaft denken kann. Im Hip-Hop zeigen sich vielleicht Probleme wie etwa Sexismus etwas ungefilterter, diese sind aber in der gesamten Gesellschaft verankert.

Die Gesellschaft debattiert über Lohngleichheit und unangebrachte Komplimente, während deutsche Strassenrapper damit prahlen, wie sie Frauen «zerficken». Das sind doch ganz andere Dimensionen.
Klar. Aber die Debatten über Lohngleichheit und Sexismus werden geführt, weil es eben Lohnungleichheit, Sexismus und auch sexuelle Gewalt gibt – und zwar überall in der Gesellschaft. Wir wollen diese Debatten nun auch in der Hip-Hop-Community führen.

Laien bleibt häufig unklar, wie wörtlich man die Texte überhaupt nehmen soll.
Mit dieser Frage haben wir uns auch beschäftigt. Eine feministische Wissenschaftlerin argumentiert in unserem Heft, dass man Sprache sehr ernst nehmen soll, egal wie die Intention dahinter aussieht. Rapper argumentieren hingegen, dass sie solche Äusserungen aus der Perspektive einer Kunstfigur tätigen und diese nicht ihrem eigenen Denken entspreche. Ich finde, beide haben irgendwie recht.

Rapper legen grossen Wert auf Authentizität – und schieben dann kritisierte Äusserungen einer «Kunstfigur» zu. Ergibt das Sinn?
Sagen wir es so: Der Widerspruch lässt sich nicht in jedem Fall auflösen. Meine Hoffnung liegt in der doch langsam steigenden Anzahl Frauen, die sich einen Platz im Rap-Game erkämpft haben, ich denke etwa an SXTN oder Loredana. Aber es ist schon so: Bis jetzt fungieren Frauen im Deutschrap vor allem als Statussymbol für Männer, das lässt sich nicht schönreden.



Der Sexismusvorwurf muss sich der Rap schon lange gefallen lassen. Neu ist der Antisemitismusvorwurf dazugekommen. Ausgelöst hat die Debatte die Echo-Prämierung eines Albums von Kollegah und Farid Bang mit der Zeile «Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen». Ist das antisemitisch?
Ich glaube, jeder, der Rap hört, hält die Zeile nicht für antisemitisch. Es ist schliesslich nur ein Vergleich, wenn auch ein dummer und unnötiger. Juden sollen damit aber nicht abgewertet werden.

Die Zeile ist aber kein Einzelfall. Kollegah träumt in einem Video von einer Welt ohne Juden, und Bushido radiert auf seinem Twitter-Profilbild kurzerhand Israel von der Landkarte. Woher kommt der Hang zum Antisemitismus?
Der Berner Rapper Knackeboul argumentiert, dass Hip-Hop schon immer eine skeptische Haltung gegenüber Eliten vertreten habe. Das mache ihn zugänglich für Verschwörungstheorien, die die Welt relativ simpel in Elite und Volk unterteilen. Von da aus ist der Weg zum Antisemitismus nicht mehr weit.

Ist das ein rein deutsches Phänomen oder auch in der Schweiz zu beobachten?
In Deutschland ist das Problem wohl akuter. Doch auch wir haben viele antisemitische Kommentare erhalten, als bekannt wurde, dass wir uns dem Thema annehmen wollen.

Kommen wir zu den Drogen. Welche Substanzen sind derzeit angesagt?
Ganz oben auf der Liste steht derzeit kodeinhaltiger Hustensaft, der gerne mit Sprite gemischt und dann als Lean bezeichnet wird. Die Glorifizierung von Lean ist ein Leitmotiv des New School Hip-Hop, der Rapper Ufo361 macht fast in jeder zweiten Zeile eine Anspielung darauf. Stark im Kommen ist auch Xanax, eigentlich ein angstlösendes Medikament.



Deutscher Strassenrap propagiert ein rückständiges Geschlechterverhältnis, Gewalt, Materialismus und Drogenkonsum. Gibt es auch etwas Positives über das Genre zu berichten?
Ich selber höre Deutschrap, seit ich zehn Jahre alt bin, früher auch solchen mit üblen Texten. Ich fand das Unangepasste und Rebellische reizvoll, und es hat mich auch nie negativ tangiert, weil ich zu differenzieren wusste. Ich bin jedenfalls weder sexistisch noch antisemitisch eingestellt. Für mich ist Hip-Hop eher mit Offenheit und Toleranz verbunden, und ich bin froh, habe ich diese Werte dank Hip-Hop verinnerlicht.

Im Vergleich mit Deutschland scheint die Schweizer Szene heilig zu sein.
Es ist in Deutschland akzentuierter, aber es gibt auch in der Schweiz Strassenrapper, deren Texte man kritisch beurteilen könnte. Der Unterschied ist: Die Schweizer haben 300 Klicks, die Deutschen 30 Millionen.

Bei den Akteuren in Bern ist aber eine gewisse Sensibilität vorhanden.
Die Szene in Bern ist politischer und alternativer als in den anderen Schweizer Städten. Das hat bereits mit Baze und Greis angefangen, ging mit Tommy Vercetti weiter und ist mit der Chaostruppe noch immer so. Ich glaube, die Reitschule hat einen positiven Einfluss auf die Berner Kulturszene im Allgemeinen.

Wie schätzen Sie die Berner Szene musikalisch ein?
Als die klar interessanteste der Schweiz. Allen voran die Combo S.O.S. hat einen ganz eigenen Sound erschaffen, den man auch auch nicht aus Deutschland oder so kennt. Die Chaostruppe besticht vor allem durch Authentizität – die wichtigste Währung im Rap. Dann gibt es auch viele junge, spannende Rapper und nicht zuletzt das Kleiderlabel Hässig, das in der ganzen Schweiz hoch angesehen ist.



Elia Binelli, Chefredaktor «Lyrics» zvg/Severin Gamper.



Vom Untergrund in die Hitparade

Von der «Three Tree Posse» bis S.O.S: Berner Rap hat die Schweizer Szene geprägt.

von Martin Erdmann


Rap auf Berndeutsch zieht eine jahrzehntelange Spur hinter sich her. Um an deren Anfang zu gelangen, muss in die frühen 90er-Jahre zurückgekehrt werden. Elementare Stützpfeiler der Hip-Hop-Kultur wie Breakdance und Graffiti waren da bereits von den Strassen New Yorks über den Atlantik geschwappt und haben sich in Bern eingenistet, doch Sprechgesang in lokalem Dialekt war ein Nachzügler. Erste Lebenszeichen konnten 1992 auf dem Sampler «Fresh Stuff 3» registriert werden. Die Burgdorfer Crew Freedom Of Speech versuchte sich «Zerschmou I Dr Mundart» und das Stadtberner Ostring-Kollektiv Three Tree Posse dachte auf «Save The Blue Globe» auf Berndeutsch über die Umwelt nach.







Es war eine Zeit, in der mit speicherarmen Samplern gearbeitet wurde, die darauf bearbeiteten Sequenzen von Funk- und Jazz-Schallplatten aus früheren Dekaden stammten und Hip-Hop weder Mainstream noch Modeerscheinung sein wollte. «Wer damals mit breiten Hosen und Baseballcap durch Bern lief, ohne Teil der aktiven Szene zu sein, bekam Probleme», sagt Baldy Minder, der in dieser Zeit seine erste Begegnung mit Hip-Hop hatte und Jahre später mit Wurzel 5 dafür mitverantwortlich war, dass Berner Rap nationale Achtung erreichte.

Es war die «zweite Welle», wie Minder sie nennt, die alles änderte. Mundart-Rap hat in Bern Wurzeln geschlagen, was auf der Zusammenstellung «Rapresent» von 1998 dokumentiert wurde. Da waren Acts wie die Münschtr Künschtlr oder LDeep, denen der grosse Durchbruch verwehrt bleiben sollte.






Da waren aber auch Wurzel 5 und PVP, die sich mit Baze und DJ Skoob zur Chlyklass zusammenschlossen und während eines Jahrzehnts das Berner Rap-Geschehen dominierten und Hip-Hop in die Schweizer Hitparade hievten. Das, obwohl es Anfang der Nullerjahre schwieriger war, den Sprung über die Kantonsgrenze zu schaffen. Ausserkantonale Missgunst war ein etabliertes Phänomen. «Zwischen Zürich und Basel war es besonders schlimm. Aber wegen des Berner Dialekts und unseren oftmals selbstironischen Texten fanden uns eigentlich alle cool», sagt Minder.












Doch nach knapp zehnjähriger Erfolgswelle ging dem Berner Rap die Luft aus. Der Hype um das Berner Rap-Konglomerat nahm ab. «Auf uns folgte ein Vakuum.» Doch eine neue Generation stand zur Stelle, um dieses zu füllen. Bereits seit 2003 warfen Tommy Vercetti und Desmond Dez Mixtapes auf den Markt, verbündeten sich später mit CBN und Manillio und stampften 2008 mit Eldorado FM die nächste Berner Supergroup aus dem Boden. Zur gleichen Zeit legten Lo & Leduc und Steff la Cheffe das Fundament, um im folgenden Jahrzehnt Chartsrekorde zu brechen, und im tiefen Schatten der Hitparade formiert sich die Chaostruppe.









Und wie blickt einer wie Minder, der die Szene seit den Anfängen mitverfolgt hat, auf das heutige Geschehen? Es seien zwar immer wieder Lichtgestalten wie Lorraine-Rapper Nativ auszumachen, doch insgesamt vermisst er die einstige Eigenständigkeit des Berner Raps. «Alle wollen wie jemand anderes klingen, wodurch sich schlussendlich vieles gleich anhört.»



Nachmittags Supreme, abends Gucci, immer Hässig

Das Berner Kleiderlabel Hässig hat sich einen festen Platz in der Hip-Hop-Community erkämpft. Modebewusste Rap-Fans können aber auf Supreme oder Gucci ausweichen, wenn die limitierten Hässig-Kollektionen ausverkauft sind.

von Fabian Christl

Ach, das waren noch Zeiten, als man die Hip-Hop-Fans an ihren breiten Hosen, weit unter der Hüfte festgeschnürt, bereits von weitem erkannte. Das hat sich geändert, die Hip-Hop-Mode für Männer ist vielfältiger geworden. Doch was tragen die coolen Jungs von heute? «Kleider vom Label Hässig», sagt Raphael Szabo. Er schmunzelt dabei, zu Recht, denn Szabo verantwortet zusammen mit Nassim Khlaifi und Cyrill Werlen das Kleiderlabel, das er nun bewirbt. Allerdings, sie haben auch Argumente: Sie heissen etwa Yung Hurn, Marteria und Nativ. Alles bekannte Rapper, die sich in Stücken des Labels ablichten liessen. Doch Argumente für Szabos These findet man auch auf der Website von Hässig: Sämtliche angebotenen Artikel sind nämlich ausverkauft. Sie produzierten stets in streng limitierten Stückzahlen, sagt Khlaifi. «Die Kunden schätzen möglichst exklusive Teile.» Klar ist, wer sich ein Kleidungsstück von Hässig ergattern will, muss sich jeweils beeilen. Diese sind meist wenige Minuten nach Verkaufsstart vergriffen.

Bei einem Treffen in ihrem Atelier räumen die drei Jungs dann doch ein, dass es neben Hässig noch ein paar andere Brands mit Popularität in der Rap-Szene gibt. Einen grossen Hype geniesst derzeit die Marke Supreme. Ursprünglich aus dem Skatebereich, besingen Rapper bereits die Kleidermarke in Liedern. Legendär ist die Zeile von Rin: «Es ist 12 Uhr, ich kauf mir Supreme.»Noch legendärer allerdings der Konter von Yung Hurn: «Es ist Donnerstag und ich kauf mir nix.»


Nativ am Royal-Arena-Festival im Hässig-Outfit



Auch K. Ronaldo alias Yung Hurn trägt Hässig.

Nassim Khlaifi, Cyrill Werlen und Raphael Szabo (v. l.) mit einem Kollegen in ihrem Atelier.

Nassim Khlaifi, Cyrill Werlen und Raphael Szabo (v. l.) mit einem Kollegen in ihrem Atelier.

Je edler, desto besser

Übrigens, einen Beitrag zum Supreme-Hype hat auch Louis Vuitton geleistet, indem die beiden Labels eine gemeinsame Kollektion herausbrachten. Für Khlaifi ein zweischneidiges Unterfangen: «Für mich hat Louis Vuitton dadurch an Attraktivität eingebüsst», sagt er. Bis vor kurzem war aber die Marke noch hoch im Kurs. Nicht zuletzt, weil man leicht an günstige Fälschungen kommt. Ob Kay Ones Song («Ich hab’ Style, ich hab’ Geld, ich trag’ Louis, Louis, Louis; deine Frau, zieht sich aus, für ne Louis Louis Louis...») dem Renommee der Marke eher ab- oder zuträglich war, kann nur gemutmasst werden.

Die meistbesungene aller Marken ist und bleibt Gucci. Diverse US-Rapper, aber auch der Deutschrapper Capital Bra widmen dem Edel-Brand ganze Lieder. Im Song «Nur noch Gucci» rappt Capital Bra: «Nur noch Gucci, Bratan, ich trag nur noch Gucci.» Wieso er im dazugehörigen Videoclip dann ein Adidas-Shirt trägt, kann nicht abschliessend beantwortet werden. Auch Khlaifi ist nur bedingt beeindruckt: «Capital Bra trägt Kleider von billigeren Gucci-Kollektionen. Da bekommt man schon für 800 Franken einen Pullover. Die richtigen Gucci-Pullis kosten 2000 Franken.»

Prügel wegen Skinny-Jeans

Leute mit kleineren Budgets setzen idealerweise auf Traineranzüge oder andere Kleider von Nike oder Adidas – beide Marken sind nach wie vor angesehen und gehen auch Kooperationen mit Rappern wie Bushido ein. Doch auch mit Reebok, Fila, Champion, Lacoste und Tommy Hilfiger liegt man richtig – vor allem, wenn die Kleider die richtigen Farben haben. Gerne gesehen sind Rot, Blau, Schwarz und Weiss in verschiedenen Kombinationen. Allerdings ist man sich in der Szene uneins, ob man verschiedene Marken – etwa Nike und Adidas – kombinieren darf.

Doch zurück zu den Hosen. Diese sind im Vergleich zu den 1990er-Jahren enger geworden. Seit Cloud-Rap und Trap im Hip-Hop Einzug gehalten haben, sind sogar Hosen erlaubt, «für die man früher verprügelt worden wäre», wie Khlaifi sagt. Sprich: Skinny Jeans. Der Trend geht aber bereits wieder in eine andere Richtung. Der nächste heisse Scheiss, so heisst es, sind breite Hosen, die man weit unter der Hüfte festbindet.

Deutschrap sein korrekter Cousin

Text:Fabian Christl, Martin Erdmann
Bilder:Franziska Rothenbühler, Adrian Moser (Porträts Nativ)
Umsetzung:Christian Zellweger
© Tamedia