Die ungebändigte Hélène

Die unkonventionelle Berner Patrizierin Hélène von Stürler wollte frei leben und lieben. Darum nahm sie den Skandal einer Scheidung in Kauf. Für eine grossbürgerliche Frau war das damals revolutionär.

Erster Teil

Porträt Hélène von Stürlers der Malers Boleslaw Szankowski.

Porträt Hélène von Stürlers der Malers Boleslaw Szankowski.

Von Naomi Jones

Sie könnte die Figur eines Romans sein. Zum Beispiel eine Effi Briest aus Bern oder die Ehebrecherin Melanie van der Straaten aus Fontanes Gesellschaftsroman «L’Adultera». Sie hat aber gelebt. Und zwar in Bern, Mailand und München. Sie sträubte sich gegen die gesellschaftlichen Zwänge des ausgehenden 19. Jahrhunderts und kämpfte für ihre Freiheit. Das bezahlte sie womöglich mit dem frühen Tod.

Hélène Escher von Stürler ist die Schwester des letzten Besitzers des Schlosses Jegenstorf Ihr lebensgrosses Porträt hängt dort im Treppenhaus. Leicht nach vorne gebeugt und mit entblösster Schulter sitzt sie auf einem Sessel. Als wollte sie aufstehen und dem Betrachter entgegentreten, rafft sie das rosa Seidenkleid mit der Hand. Zu ihren Füssen liegt eine rosa Rose auf dem Boden, wie achtlos hingeworfen.

«Die Frau strahlt das gewisse Etwas aus und fasziniert unsere Besucher immer wieder», sagt die Schlossmuseumsleiterin Murielle Schlup. Doch sei bisher nicht viel von Hélène bekannt gewesen. «Man wusste zwar, wer sie war, aber über sie zu reden, war lange tabu.»

In der Oberschicht des beginnenden 20. Jahrhunderts war ein Frauenleben wie das von Hélène skandalös. «Man schämte sich in der Familie für die Frau», erklärt Schlup. Denn Hélène von Stürler entsprach nicht den damaligen Erwartungen an Frauen ihrer Schicht und lebte das Leben einer selbstbestimmten Frau. Mehr noch. Sie war eine frühe Feministin, die sich nicht vorschreiben liess, wie sie ihre Sexualität zu leben hatte. Sie liess sich nicht von der Ehe zähmen und entfloh dem grossbürgerlichen Korsett in die Münchner Belle Epoque und Bohème.

«Man schämte sich in der Familie für die Frau»

Vor dem Sturm

Hélène wird am 30. August 1873 geboren und wächst zusammen mit ihren drei jüngeren Geschwistern auf dem Schloss Jegenstorf auf. Ihre beiden älteren Brüder sterben, als Hélène drei Jahre alt ist. Auf dem Schloss erhält sie die klassische Ausbildung für Mädchen der Oberschicht. Sie wird also von einem Hauslehrer unterrichtet und geht später zur Schule. Um das Französisch zu verbessern sowie zur Ehevorbereitung, wird sie ins Internat im Welschland geschickt. Am 14. Oktober 1895 heiratet Hélène im Alter von 22 Jahren Heinrich Escher, einen Seidenfabrikanten aus Zürich. Die Hochzeit ist standesgemäss. Wie die von Stürler gehören die Eschers im 19. Jahrhundert zur obersten Gesellschaftsschicht der Schweiz. Von Stürlers sind eine Familie des alten Patriziats. Die Eschers sind Finanz- und Bildungsbürger.

Die Familie ist erleichtert, die als unkontrollierbar empfundene Tochter in sichere Bahnen gelenkt zu haben. Hélène gilt schon damals als freiheitsliebendes und lebenslustiges Wesen. Ihr Mann ist zwar beinahe 20 Jahre älter als sie. Das ist damals aber nicht unüblich. Mit der Verbindung von altem Namen und neuem Geld werden Macht und Kapital konzentriert. Das Alter der Partner ist zweitrangig. Die Heirat von Hélène und Escher ist also eine typische Heirats­allianz der Familien von Stürler und Escher.

Das frischvermählte Paar zieht nach Mailand, vermutlich an die Via Brera. Im folgenden Sommer bringt Hélène ihren ersten Sohn Eduard zur Welt. Zwei Jahre später wird sie von Alfredo entbunden. Alles scheint nach Plan zu verlaufen. Denn die grossbürgerliche Ehe unterliegt gewissermassen einem Imperativ zum Glück. Das liegt vor allem am Selbstverständnis des zu Wohlstand gekommenen Bürgertums. Die Historikerin Caroline Arni von der Uni Basel sagt es so: «Das Bürgertum erfand das Ideal der Liebesheirat, um sich vom Adel abzugrenzen.» Authentizität statt der Dekadenz des Adels, Gefühl statt heiratspolitisches Kalkül. Das war der Anspruch. In der Realität lavierten grossbürgerliche Paare oft zwischen den beiden Polen Liebe und Geld hin und her.

Das tun auch Hélène und Heinrich Escher. Vielleicht ist die Heirat noch eine Liebesheirat. Vielleicht mag Hélène Escher zumindest. Vielleicht liebt er sie. Escher will eine glückliche Familie präsentieren und von seiner Frau geliebt werden. Hélène versteht die Ehe eher als Allianz der Familien und die Gefühle als Privatsache. Die schöne junge Frau hat Verehrer. Vielleicht gar Liebhaber.

Irrungen, Wirrungen

Bei einem Ferienaufenthalt in Rovio im Tessin lernt Hélène den deutschen Baron Ruffin kennen. Escher hat sie und die Kinder nach Rovio gebracht, während er nach Zürich fährt. Ferien – das ist die rare Zeit, in der sich die grossbürgerliche Frau der Kontrolle des Mannes entziehen kann. Eine kurze Zeit der Freiheit. Hélène geht ein Verhältnis zum Baron ein. Nach den Ferien im Tessin schreibt Ruffin mehrere Briefe an Hélène und reist ihr gar nach Jegenstorf nach, um sie dort zu treffen. Zurück in Mailand entdeckt Escher die Briefe des Verehrers und stellt seine Frau zur Rede. Das Ehepaar versöhnt sich wieder, nachdem Hélène ihrem Mann die Briefe Ruffins ausgehändigt hat.

Im folgenden Sommer bringt Escher Hélène und die beiden Söhne in eine abgelegene Villa nach Varese. Und hier verliebt sich der Sohn des Vermieters, ein junger Student aus Pavia namens Guido Weiss, unsterblich in die Schöne. Das Gericht zitiert aus einem seiner leidenschaftlichen Briefe: «Ma toute aimée, Elène, ma vie, je te supplie, ne m’abandonne (pas), en cet instant unie ta vie à la mienne.» Verzweifelte Worte eines schmachtenden Liebhabers. Als Escher seine Frau in den Ferien besucht, entgeht ihm das Werben des Studenten nicht. Eifersüchtig verlangt er von seiner Frau, dem jungen Mann einen Abschiedsbrief zu schicken. Diesen diktiert er sogar. Doch sie tut offenbar das Gegenteil, möglicherweise aus Trotz. Sie setzt die Beziehung fort.

Zurück in Mailand, kommt Escher dem geheimen Liebespaar auf die Schliche; er fängt Briefe ab. Wieder verlangt er Briefe und Geschenke des Liebhabers, wieder bietet er im Gegenzug die Versöhnung an. Doch diesmal lehnt Hélène ab.

So viel eigenständiges Denken und Wollen einer Frau sind im grossbürgerlichen Milieu nicht vorgesehen. Die Reaktion Eschers ist drastisch. Er lockt sie in Mailand durch einen Boten und unter einem Vorwand in eine Kutsche. Kaum ist die ahnungslose Hélène eingestiegen, schliesst der Bote die schwarzen Vorhänge, und Hélène wird gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik gebracht. Um «ihren Geisteszustand prüfen zu lassen» und um sie «vor der Welt zu rehabilitieren», wie Escher später sagen wird. Von Hélènes Vater hat er dazu eine Vollmacht erhalten. Wobei er diese nicht einmal gebraucht hätte.

Die Disziplinierung von Frauen, die sich nicht konform verhielten, mithilfe der Psychiatrie ist typisch für die Zeit um 1900. Der Zürcherin Lydia Welti-Escher, die vermutlich mit Heinrich Escher verwandt ist, widerfährt ein ähnliches Schicksal, nachdem sie mit ihrem Geliebten durchgebrannt ist. In einem solchen Fall sind die Frauen davon abhängig, ob sich die Ärzte von den Verwandten zur Disziplinierung einspannen lassen oder nicht. Hélène hat offenbar Glück. Dass bei einer solchen Aktion der Vater eher zum Gatten der Tochter als zu seinem eigenen Kind hält, verwundert die Historikerin Caroline Arni nicht. «Beide hatten im strengen Ehrenregime der grossbürgerlichen Gesellschaft ihren Ruf zu verlieren.» Es ist allerdings das letzte Mittel, zu dem die Familien greifen. Denn der Psychiatrie haftet ein Stigma an.

Für Hélène sind die Entführung und Einweisung in die Klinik ein traumatisierendes Erlebnis. Escher habe sie auf «raffinierte und beleidigende Art» entführen lassen und «fünf Monate lang in einer Privatirrenanstalt gefangen gehalten», sagt sie später. Durch die gewaltsame Internierung habe sie den letzten Rest von Achtung gegenüber ihrem Gatten verloren. Ihre Verhältnis zum Ehemann ist nun definitiv zerstört. In der Not nimmt Hélène den Briefkontakt zu ihren Verehrern Ruffin und Weiss wieder auf. Noch in der Klinik attestiert ihr ein Professor geistige Gesundheit, allerdings auch «ein moralisches Defizit». Mit diesem Vorwurf sind damals bürgerliche Männer schnell zur Hand, wenn eine Frau nicht das gängige Rollenbild erfüllt.

Die Sonderausstellung «Unsere Frauen» im Schloss Jegenstorf zeigt einen vielfältigen Überblick auf Frauenbiographien und Alltagsgeschichte von Bernerinnen zwischen dem 16. Und 20. Jahrhundert. Die porträtierten Frauen haben alle im Schloss gelebt oder gearbeitet haben. Hélène Escher von Stürler ist als Schwester des letzten Schlossbesitzers eine von ihnen. Zudem widmet sich die Ausstellung auch Frauen, deren Bild sich im Besitz der Schlossstiftung befindet. So etwa Catherine von Wattenwyl, die im 17. Jahrhundert als Spionin des französischen Königs Louis XIV festgenommen wurde. Ihr ist ein ganzer Raum mit Bilderzyklus gewidmet. Die Ausstellung wird bis am 14. Oktober gezeigt und von einem reichen Rahmenprogramm mit szenischen Führungen oder Klöppel-Workshops begleitet.
Der Artikel über Hélène von Stürler basiert auf der Ausstellung im Schloss Jegenstorf sowie auf zusätzlichen Originalquellen: das Scheidungsurteil vom 22.8.1903 im Staatsarchiv Kanton Zürich, die Nachlassakte Helene Adele Cäcilie Escher von Stürlers im Staatarchiv München.  Sie wurden zum Teil mit Hilfe Martin Kohlers von der Berner Universitätsbibliothek entziffert. Die Hintergrundinformationen zur Zeit um 1900 stammen aus einem Interview mit der Historikerin Caroline Arni. Sie untersuchte in ihrem Buch «Entzweiungen» Scheidungen um die Jahrhundertwende. Ein weiteres Gespräch zur Einschätzung der Lebensumstände fand mit dem Architekturhistoriker Dieter Schnell statt. Recherche und Text wurden von Chefredaktor Patrick Feuz beratend betreut. (nj) 

Unwiederbringlich

Escher fordert schliesslich die Scheidung. Hélène willigt ein und verlangt vor Gericht «ihre Freiheit». Am 22. August 1903 wird die Ehe in Zürich «auf gemeinsames Begehren» hin geschieden. Das Gericht anerkennt die Ehe als zerrüttet, nicht ohne beide Partner zu rügen. Schliesslich hält es die Scheidungsformalitäten fest, auf die sich das Paar aussergerichtlich geeinigt hat.

Der Prozess, auf 13 Protokollseiten in feinsäuberlicher Schrift festgehalten, zeigt eindrücklich die bürgerlichen Erwartungen an die Ehe und an junge Frauen. Und was noch als anständig und akzeptabel gilt. Das Protokoll ist gleichzeitig ein Dokument dafür, wie eine selbstbewusste junge Frau es wagt, für ihre eigene Lebensauffassung einzustehen und sich nicht in die für sie vorgesehene Rolle drängen zu lassen.

Ihren beiden Söhnen Eduard und Alfredo ist sie eine zärtliche Mutter. Doch Escher wünscht sich vor allem eine auf Disziplin achtende Mutter: Den Kindern lasse sie alles durchgehen, und auch sie selbst «lasse sich nichts sagen, sich nicht belehren und sei eigensinnig». Hélène habe eine «andere Lebensauffassung» als er. Konkret habe sie einen «Hang zu kokettieren», «grosse Toilette» und «für die ökonomische Seite der Haushaltung keine Lust und kein Verständnis». Die Frau als sparsame Haushaltsvorsteherin und Erzieherin der Kinder, die dem Mann gehorcht: Nein, diese bürgerliche Erwartung hat Hélène nicht erfüllt.

Sie mag schöne Kleider, geistreiche Gesellschaft und gibt gerne Geld aus. Sie will selbst über sich bestimmen und hat eine klare Vorstellung davon, wie ein gutes Leben aussieht. Auch für eine verheiratete Frau. Vor Gericht kontert sie die Vorwürfe ihres Mannes: Als junge Frau habe sie ein «Recht auf gemeinsamen Lebensgenuss». Escher habe «die Kunst nicht verstanden und dies offenbar auch nicht gewollt, eine junge Frau an sich zu fesseln». Er sei nervös und launisch. Von Anfang an habe er an ihr «herumerziehen» wollen. Dabei habe er sich in Details der Haushaltung eingemischt und ihre Autorität gegenüber Dienstboten untergraben. Hélène beschreibt Escher gar als rücksichtslos und brutal gegen sie und die Kinder. Er habe diese ungerecht behandelt und geschlagen. Auch sie habe er geschlagen und ihr einmal sogar gedroht, sie «wie einen Hund zu erschiessen».

Hélène bestreitet die ausserehelichen Beziehungen nicht. Es seien jedoch nur freundschaftliche Beziehungen, sagt Hélène. Die Ehe habe sie nie gebrochen. Das sagt sie womöglich nur aus rechtlichen Gründen: Ehebruch wäre ein Scheidungsgrund und würde Hélène im Hinblick auf Kinder und Vermögen in eine schlechte Verhandlungsposition bringen. Dass die Scheidung auf gemeinsames Begehren und also ohne Schuldigen möglich ist, ist Hélènes Glück – und damals keine Selbstverständlichkeit.

Die Schweiz hat zwischen 1874 und 1912 ein relativ liberales Ehe- und Scheidungsrecht. Ein Paar kann sich auf gemeinsames Begehren hin scheiden lassen, wenn die Ehe als zerrüttet gilt. Dies müssen die Partner vor Gericht mit allen möglichen Argumenten darlegen, wie es Hélène und Heinrich Escher ausführlich und eindrucksvoll tun.

Auf die beiden Söhne muss Hélène verzichten. Die Kinder bleiben beim Vater. Die Mutter darf sie alle drei Wochen einen Tag lang oder einmal im Jahr sechs Wochen lang zu sich nehmen. Sie erhält ihre Aussteuer und die Mitgift von 66’041 Franken zurück – das Geld soll an ihren Vater bezahlt werden. Für ein silbernes Tafelservice, das Escher behält, vergütet er Hélène ihren Anteil von 915 Franken, eine grosse Summe für damalige Verhältnisse.

Schliesslich muss Escher laut Gerichtsakten ein «Album» an Hélène zurückgeben, das er in seinen Besitz gebracht hat. Ein Album? Vermutlich ist es Hélènes Tagebuch. Die Einträge über die Verehrer, so der Gerichtsentscheid, müssen im Beisein der Anwälte beider Parteien herausgerissen und zusammen mit deren Briefen vernichtet werden.



«Sie liess sich nicht zähmen»


Interview mit der Historikerin Caroline Arni über das Leben grossbürgerlicher Frauen um 1900.


Wie mehrere Figuren in Romanen der Zeit heiratete Hélène von Stürler einen Mann, der beinahe 20 Jahre älter war als sie. War das üblich?
Hélène von Stürler und Heinrich Escher gehören zur obersten Gesellschaftsschicht der Schweiz im 19. Jahrhundert. Von Stürlers waren alte Patrizier. Die Eschers gehörten zum Zürcher Finanz- und Bildungsbürgertum. Die Verbindung von altem Namen und neuem Geld war eine typische Heiratsallianz. Damit wurden Macht und Kapital konzentriert und der soziale Kreis gefestigt. Das Alter der Ehepartner war zweitrangig.

Dann war Heinrich wohl nicht die grosse Liebe Hélènes.
Es gab zwar schon das Ideal der Liebesheirat. Das Bürgertum erfand sie sogar, um sich vom Adel abzugrenzen. Es sagte damit: «Wir sind autentischer als der dekadente Adel, wir haben Gefühl.» Faktisch wurde aber zwischen Gefühl und Kalkül laviert. Immerhin: Weil in Abgrenzung zum Adel am Konzept der Liebesheirat festgehalten wurde, gab es eine Art Imperativ, dass die Ehe glücklich zu sein habe.

Die Ehe war aber unglücklich und wurde geschieden.
Die Schweiz hatte zwischen 1874 und 1912 ein relativ liberales Ehe- und Scheidungsrecht. Es führte im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu einer hohen Scheidungsrate. Dies versuchte man mit einem strengeren Scheidungsrecht wieder einzudämmen. Ohne Erfolg. Zur Zeit der Scheidung Hélènes konnte sich ein Paar auf gemeinsames Begehren hin scheiden lassen, wenn die Ehe als zerrüttet galt. Hélène und Heinrich belegten also mit allen möglichen Argumenten, dass die Ehe zerrüttet war: Ehebruch, Misshandlungen und Beleidigungen.

Hélène gab zwar die ausserehelichen Beziehungen zu, bestritt aber den Ehebruch. Warum?
Ehebruch ist schwer zu beweisen. Er war ein Scheidungsgrund und brachte den Ehebrecher oder die Ehebrecherin im Hinblick auf Vermögen und Kinder in eine schlechtere Position. Sofern Hélène tatsächlich die Ehe gebrochen hätte, tat sie gut daran, dies zu leugnen. Allerdings ist im Nachhinein nicht relevant, welcher Art ihre ausserehelichen Beziehungen waren, sondern dass sie sich als grossbürgerliche Frau nicht durch die Ehe zähmen liess. Sie wollte über sich selbst bestimmen.

Und zahlte dafür mit der Internierung in einer psychiatrischen Klinik einen hohen Preis.

Auch das ist typisch für die Zeit um 1900. Frauen und übrigens auch Männer, die sich nicht konform benahmen, versuchte man so zu disziplinieren. Ähnliches erfuhr Lydia Welti-Escher, die vermutlich mit Heinrich verwandt war. Sie wurde ebenfalls zwangspsychiatrisiert, nachdem sie mit ihrem Geliebten durchgebrannt war. Hélène hatte offenbar Glück. Ihre Ärzte liessen sich nicht für die Disziplinierung einspannen.

Aber Hélènes Vater hatte sich laut Escher einspannen lassen und seinen Segen dazu gegeben.
Das wundert mich nicht. Es ging um den Ruf und die Ehre der Escher wie der Stürler, wenn sich Hélène nicht konform benahm. Der Vater hatte also ein ähnliches Problem mit der Tochter, wie der Mann. Allerdings haftete der Psychiatrie ein Stigma an, und es war auch bei grossbürgerlichen Familien das letzte Mittel, zu dem sie griffen.

Caroline Arni ist an der Universität Basel Professorin für Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In ihrem Buch «Entzweiungen» (2004) untersuchte sie Scheidungen um 1900.

Text und Produktion:
Naomi Jones
Fotos:
Privatbesitz
Ölbild:
Stiftung Schloss Jegenstorf

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