Und zum Znacht gab es Haschkekse

1968 tummelten sich Marc Hellman, Margrit Steiner, Pier Hänni und Veronika Minder in derselben Kommune.

Nun treffen sie sich im «Pyri» wieder und schwelgen in Erinnerungen.

Ein Gespräch über freie Liebe, das Kommunenleben – und ganz viel Drogen.

Nun sitzen sie wieder beisammen, die ehemaligen Kommunarden Margrit Steiner, Marc Hellmann und Pier Hänni; und auch Kommunen-Stammgast Veronika Minder ist wieder mit dabei. Im Restaurant des Pyrénées, wie damals, Ende der 60er-Jahre, als das «Pyri» ihr zweites Wohnzimmer war. Dort verkrochen sie sich, wenn ihnen ihre Kommune in der Berner Altstadt zu chaotisch wurde, der Kühlschrank nicht viel hergab oder sie ein paar Freunde treffen wollten.

Und doch: Es ist kein bisschen wie früher. Keine Joints, keine Trips, keine laute Musik, keine sexuellen Ausschweifungen. Also nichts von dem, was man mit Kommunen der 68er-Bewegung verbindet. Doch stimmt das überhaupt? Waren die 68er wirklich so enthemmt? Bekanntlich brauchte es in den 1960er-Jahren ja wenig, um die kleinbürgerliche Mehrheitsgesellschaft zu provozieren. Eltern waren schon geschockt, wenn ihre Zöglinge die doch sehr braven Beatles hörten; Lehrer schickten langhaarige Schüler wieder nach Hause und das Konkubinat war verpönt und teilweise sogar verboten.

«Quatsch», sagt Veronika Minder. «Wir waren noch viel wilder, als es die Geschichten vermuten lassen.» Das könne man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Es folgen Geschichten von Dreiecksbeziehungen, vollurinierten Matratzen, Einbrüchen in Bundesämter zwecks Diebstahls von LSD, brennenden Flipperkästen und Drogenkonsum, viel Drogenkonsum. «Täglich drehten Joints ihre Runden, häufig nahmen wir auch LSD», sagt Margrit Steiner.

Der grosse Rausch hat Spuren hinterlassen. Viele Erinnerungen sind zerronnen. Die vier Anwesenden wissen nicht einmal mehr, wo sich die Kommune genau befand. Das heisst, sie glauben es schon zu wissen, nur sind sie sich nicht einig. Margrit Steiner, die damals 18  Jahre alt war, verortet die Kommune «irgendwo an der Marktgasse». Pier Hänni (damals 19 Jahre alt) wiederum würde seine beiden Hände auf die Adresse Metzgergasse 39 verwetten. Marc Hellman (damals 27 Jahre alt) tendiert auch zur Metzgergasse, aber eher zur Hausnummer 51. Veronika Minder (damals 20 Jahre alt) zuckt mit den Schultern. «Wer sich noch an die 60er erinnern kann, war nicht dabei», sagt Pier Hänni – ein bekanntes Bonmot der Alt-68er.



Lange Haare, bunte Kleider, wilde Wohngemeinschaften, Drogen, Demonstrationen und Politik: Waren Sie auch aktiv als «68er»? Oder konnten Sie mit der Bewegung gar nichts anfangen? Auf der «Bund»-Diskussions-Plattform «Stadtgespräch» suchen wir Ihre Geschichten. Teilen Sie mit uns Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit. Uns interessiert, wie Sie jene Jahre erlebt haben. Und wie Sie diese Zeit im Rückblick bewerten. Ihre Beiträge werden in weitere Artikel einfliessen, die der «Bund» zum 50-Jahr-Jubiläum von «68» plant. Die besten Texte werden wir auch in der Zeitung abdrucken. Die Webadresse der Plattform lautet: stadtgespraech.derbund.ch. (zec)

Die 68-er WG

Veronika Minder

Veronika Minder (ehemals Grossenbacher) ist 1948 in Spiez auf die Welt gekommen. Sie studierte an der Universität Bern Kunstgeschichte. Später organisierte sie Konzerte und Modeschauen. In den 1990er-Jahren fungierte sie als Geschäftsleiterin verschiedener Berner Kinos. Minder ist zudem Mitinitiantin der Frauen-Film-Tage Schweiz, der Zauberlaterne und des lesbisch-schwulen Filmfestivals Queersicht. Nach der Jahrtausendwende begann sie selber Filme zu drehen. Ihr berühmtestes Werk heisst «Katzenball» und beleuchtet die Lesbengeschichte in der Schweiz.

Pier Hänni

Pier Hänni ist 1949 in Niederwangen auf die Welt gekommen. Er erforscht seit Ende der Sechzigerjahre «geistige Traditionen, Naturmythologie, Volkskunde sowie die Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und Natur», wie es auf seiner Webseite heisst. 1971 gehörte er zu den Initianten der Partei Härdlütli, welche damals einen Sitz im Berner Stadtparlament gewann. Mittlerweile hat er sich vom Stadtleben verabschiedet und sich in Sigriswil niedergelassen. Vom Simmental aus schreibt er spirituell angehauchte Bücher über Kraftorte, leitet Kurse und bietet Themenwanderungen an.

Margrit Steiner

Margrit Steiner (ehemals Probst) ist 1950 auf die Welt gekommen. Sie wurde 1971 als Kandidatin der Härdlütli in den Stadtrat gewählt. Später versuchte sie sich im zentralamerikanischen Staat Belize als Farmerin. Angesichts der klimatischen Bedingungen sei das nicht so einfach gewesen, sagt sie. Seit 2005 lebt sie wieder in Bern – und widmet sich auch wieder der Politik. So kandidierte sie auf der Liste Neue Berner Welle für den Gemeinderat. Die Liste mit Spitzenkandidat Stefan Theiler erinnere sie an die Härdlütli, begründete Steiner ihre Kandidatur.

Marc Hellmann

Marc Hellman ist 1941 auf die Welt gekommen. Mit Politik hatte er nie viel am Hut, dafür mit Musik. Mit 15 lernte er Schlagzeug spielen. Bereits 1963 tourte Hellman mit dem Sextett von Kurt Weil durch Skandinavien. Auch während der wilden Kommunenjahre war Hellman viel im Ausland. Seine Funktion in der Kommune bestand im Wesentlichen darin, den anderen Kommunarden verschiedene Spielarten des Jazz in grosser Lautstärke vorzuspielen. Danach arbeitete Hellman in unzähligen Projekten mit Musikern aus der ganzen Welt zusammen, unter anderem auch mit Polo Hofer.

Nachbar schoss auf Kommune

Dass sich die vier gemeinsam an einen Tisch setzen, dafür war einiges an Überzeugungsarbeit nötig. Vor allem Veronika Minder hatte anfänglich wenig Lust, mit dem «Raum einnehmenden» Pier Hänni zusammenzukommen. Nun freuen sich alle trotzdem über das Wiedersehen. Vor allem, als Marc Hellman mit einer halbstündigen Verspätung das Pyri betritt, ist die Begeisterung gross. Dem 76-Jährigen mit Lederhut, das Resthaar zu einem Schwänzchen gebunden, sieht man den Musiker noch immer an. Margrit Steiner strahlt. Hellman war ihre erste Liebe.

Und da man sich teilweise schon Jahrzehnte lang nicht mehr gesehen hat, gibt es auch viel zu berichten. Man spricht über Kinder, Musik und Drogen. An ein reguläres Interview ist hingegen kaum zu denken. Wenn ausnahmsweise jemand eine Frage beantwortet, widmen sich die Verbliebenen parallel einem anderen Thema. Oder jemand entdeckt am Nachbartisch verschollen geglaubte Freunde und verlässt die Runde vorübergehend.

Immerhin, mit der zunehmend chaotischeren Stimmung kommen Erinnerungen an die Kommune langsam wieder hoch. Man dürfe sich darunter keine herkömmliche Wohngemeinschaft vorstellen, sagt Marc Hellman. Manchmal hätten dort vier, manchmal aber auch zehn Personen gehaust. Partys habe es aber keine gegeben. Laut waren sie trotzdem. «Einmal hat ein Nachbar wegen des Lärms mit einem Flobertgewehr auf unsere Wohnung geschossen», sagt Pier Hänni. Später sammelten dann Anwohner bis runter zur Nydeggbrücke Unterschriften, um gegen die unliebsame Kommune vorzugehen.

Revolte dank Wirtschaftswunder

Auch gekocht wurde kaum. «Nachdem die Küche einmal dreckig war, wurde sie nie mehr benutzt», sagt Marc Hellman. Die anderen pflichten ihm bei. Er habe sich nur von Haschkeksen ernährt, sagt Pier Hänni. «Es ist mir rätselhaft, wie ich die Zeit überhaupt überlebt habe.»

Rätselhaft ist auch, dass sich Ende der 60er-Jahre doch ein beachtlicher Teil der Jugend von so einem kompromisslosen Lebensstil angezogen fühlte. Zwar fühlten sich bei weitem nicht alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen dieser Szene zugehörig. Doch selbst in Bern, wo die Aufstände im Vergleich zu Paris, Berlin, den USA und selbst Zürich eher bescheidene Ausmasse angenommen haben, waren breite Kreise der Bewegung zugeneigt. Wissenschaftler bringen zur Erklärung vor allem sozio-ökonomische Gründe vor. «Diese Jugend hat den Mangel nicht erlebt, den Krieg nicht erlebt, die Bedrohung des Faschismus nicht erlebt – kennt deshalb die kollektive Existenzangst nicht, die dem Sicherheitsbedürfnis der älteren Generation zugrunde liegt», schrieb etwa Rolf Herzog in «Kommunen der Schweiz».

Laut den Ausführungen der Kommunarden spielte aber auch das durch die aufkommende Konsumgesellschaft ausgelöste Wirtschaftswunder eine grosse Rolle. Sie hätten zwar bescheiden gelebt, seien aber dennoch gut durchs Leben gekommen: «Die Preise für Miete und Nahrung waren tief, zudem musste man nur zweimal schnippen, und man hatte eine Stelle», sagt Margrit Steiner.

1968: Das kollektive Erinnern beginnt

Bald 50 Jahre ist es her, als die Studenten- und Jugendproteste ihren Höhepunkt hatten. Bereits jetzt fängt das Erinnern an die 1968er-Bewegung an, welche die Gesellschaften in den westlichen Ländern stark geprägt hat. Obwohl Bern nicht das Epizentrum dieser Proteste war, beschäftigen sich derzeit mehrere Berner Institutionen und Autoren mit den Revolten:

•Das Historische Museum Bern zeigt ab Freitag die Wechstelausstellung 1968 Schweiz. «1968» sei mehr als eine Jahreszahl, heisst es auf der Webseite des Museums. «Es ist die Chiffre für einen gesellschaftlichen Wandel von der Mitte der 1960er- bis zur Mitte der 1970er-Jahre.» Die Ausstellung gehe den Spuren dieser bewegten Jahre nach und frage, was heute in Politik, Kultur und Alltag davon übrig ist. Die Ausstellung wird von zahlreichen Podiumsgesprächen sowie einer Film- und Vortragsreihe begleitet.
•Der Verein StattLand widmet eine Stadtführung der historischen Umbruchphase. Der Rundgang führt etwa an die Junkergasse, wo die «Junkere 37» zwischen 1962 und 1975 den Berner Aktivisten als Debattier- und Veranstaltungsort diente. Die erste öffentliche Führung findet diesen Samstag, um 14 Uhr, statt.
•In diesen Tagen erscheint im Stämpfli Verlag das Buch Revolte, Rausch und Razzien. Ein Autorenteam bestehend aus Walter Däpp Samuel Geiser, Bernhard Giger, Rita Jost, Heidi Kronenberg und Fred Zaugg hat dafür 19 Männer und Frauen aus dem Bernbiet nach ihren Erinnerungen zu 1968 befragt.
•Bereits erschienen ist das Buch Das Jahr der Träume von Benedikt Weibel (der «Bund» berichtete). Der ehemalige SBB-Chef lässt darin «den Groove der 1960er-Jahre aufleben», wie es in der Medieninformation des Verlags NZZ Libro heisst.

Wie war das damals? Die Jugenderinnerungen der Ex-WG. (Video: Frank Geister)

LSD hat Debatte entschieden

Dass auch die damaligen Akteure nicht alle Stricke hinter sich zerrissen, zeigt auch der Blick in die Gegenwart. Nicht wenige Alt-68er haben Karriere gemacht und gehören heute zum «Establishment», das sie früher bekämpften. Bekannte Beispiele sind etwa der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel oder der Ex-Konzernchef der Post, Ulrich Gygi.

Die Anwesenden sind zwar etwas angepasster als damals, richtig bürgerlich wurden sie aber nie: Veronika Minder hat mehrere Filme gedreht, Marc Hellman tourte als Musiker um die Welt, Pier Hänni schrieb spirituell angehauchte Bücher, und Steiner versuchte sich im zentralamerikanischen Belize als Farmerin. Und alle haben sie eine grosse Offenheit bewahrt und strahlen sie Wärme aus.

Vor allem Leute der «Polito-Fraktion» seien verbürgerlicht, sagt Pier Hänni. «Bei vielen wussten wir es schon damals.» Er unterteilt die 68er-Bewegung in Politos und Freaks, wobei seine Kommune zur zweiten Kategorie gehörte. «Wir lebten an derselben Strasse, aber auf unterschiedlichen Strassenseiten», sagt er, um das Verhältnis zu beschreiben.

Veronika Minder charakterisiert die beiden Strömungen folgendermassen: «Während die Politos in Anlehnung an Marx davon ausgingen, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, glaubten wir an den Spruch des Psychologen und Autors Timothy Leary: Das Bewusstsein bestimmt das Sein.» Mit ihrem damaligen Freund habe sie diese Diskussion oft geführt. «Nach dem ersten gemeinsamen LSD-Trip war die Debatte aber zu meinen Gunsten entschieden.»

Völlig unpolitisch waren sie dennoch nicht. An Demonstrationen der Friedensbewegung traf man sie regelmässig an. Pier Hänni war gar ein Monat lang im Gefängnis. Die Geschichte dazu geht so: Pier Hänni und seine Freunde verbrachten regelmässig Wochenenden auf einem Zeltplatz am Murtensee. Bei den anderen Campern waren sie aber nicht sonderlich beliebt. Einmal kam Pier Hänni zu Ohren, dass diese eine Bürgerwehr auf die Beine stellten, um die Berner Hippies wegzuprügeln. In der Folge verfasste er ein Flugblatt, mit dem er die gesamte Berner Szene an den Murtensee zu mobilisieren versuchte. Mit Erfolg, viele kamen – und liessen sich vor Ort auch nicht lumpen. «Unsere Freunde haben Flipperkästen mit Benzin übergossen, angezündet und in den See geworfen.» Am nächsten Morgen war zudem der Kiosk aufgebrochen und geplündert. «Es scheint eine grossartige Nacht gewesen zu sein – leider war ich selber gar nicht dort, weil Margrit wieder einen Anfall hatte.» Dafür belangt wurde er trotzdem.

Von einem gewissen politischen Interesse zeugt auch, dass Pier Hänni, Margrit Steiner und Veronika Minder an der Gründung der Härdlütli beteiligt gewesen sind, welche heute vor allem mit Polo Hofer in Verbindung gebracht werden. Auf dem Wahlplakat posierten die Kandidierenden nackt. Der «Blick» nahm das dankend auf und schrieb vom «Busenwunder» Margrit Steiner. Es schadete ihr nicht. Im Gegenteil, sie wurde ins Stadtparlament gewählt. Zu den Forderungen der Härdlütli gehörten die Befreiung der Bären aus dem Bärengraben, die Offenlegung des Stadtbachs und eine weitgehend autofreie Altstadt. Sie seien nie klassische Linke gewesen, sagt Pier Hänni. «Unser Widerstand war viel tiefgreifender.» So hätten die studentischen Linken mit ihrem Hang zum Sozialismus den autoritären Staat nie ganz überwunden. «Wir wollten uns von jeglichen Fesseln lösen.»

«Es ist mir rätselhaft, wie ich die Zeit überhaupt überlebt habe.» - Pier Hänni

Möbel sind überbewertet: Veronika Minder sass lieber am Boden. (Bild: zvg)

Wenn Männerbesuch da war, setzten sich Steiner (mitte) und Minder an den Tisch. (Bild: zvg)

Ein Ausflug von Veronika Minder (links) und Margrit Steiner. (Bild: zvg)

«Zwang zur Freizügigkeit»

Je länger Pier Hänni spricht, umso genervter verdreht Veronika Minder Augen. «Ich habe es gewusst, ich hätte nicht herkommen sollen», sagt sie. Es sei wie früher, «die Männer erklären die Welt». Dann dreht sie sich zu Pier Hänni: «Es wäre doch noch schön, wenn die anderen auch zu Wort kämen», sagt sie. Pier Hänni lässt sich davon nicht beeindrucken und berichtet fröhlich weiter.

Laut Veronika Minder war die 68er-Bewegung betreffend Gleichstellung der Geschlechter nicht wirklich weiter als die Mehrheitsgesellschaft. «Es war noch die Zeit vor der 2. Frauenbewegung, das Frauenstimmrecht war noch nicht eingeführt.» Auch die freie Liebe sei hauptsächlich von Männern propagiert worden. «Wir Frauen haben uns häufig gar nicht getraut, Nein zu sagen, weil wir nicht als bieder gelten wollten.»

Das Phänomen ist auch der Forschung bekannt. Bereits 1971 schrieb Herzog vom «Zwang zur Freizügigkeit», der von den Gruppen ausgeübt worden sei. Letztlich seien diese Versuche aber meist von kurzer Dauer gewesen. In seiner Untersuchung habe er dann «fast ausnahmslos Paarbeziehungen gefunden».

In der Altstadt-Kommune wurde zumindest die Hausarbeit gleichberechtigt aufgeteilt: Es haben einfach alle gar nichts gemacht. Woran die Kommune gescheitert ist, wissen sie nicht mehr so genau. Steiner erinnert sich lediglich, dass sie eine Zeit lang im Ausland weilte. «Als ich nach einem Monate wieder zurückkam, war die Wohnung leer geräumt.»

«Viele WGs sahen sich als politische Kampfeinheit»

Die Vielfalt an kollektiven Wohnformen habe zugenommen, sagt Historiker Thomas Stahel.

Sie haben Wohngemeinschaften ab 1968 erforscht. Gab es vorher keine WGs?
Am Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden einzelne sogenannte Einküchenhäuser, wo es eine zentrale Grossküche gab. Die meisten dieser Projekte wurden in Nordeuropa realisiert, eines auch in Zürich. Grundidee war die Befreiung der Frau von der Hausarbeit. Im Gegensatz zu den Kommunen der frühen 1970er-Jahre fanden die Einküchenhäuser aber keine grosse Verbreitung.

Auch 1968 existierten in der Schweiz erst ganz wenige Wohngemeinschaften?
In der Tat. Mitte der 1960er-Jahre entstanden die ersten Kommunen in Europa. Die neue Wohnform wurde in den Medien thematisiert und schwappte auch in die Schweiz über. Ende der 60er-Jahre wurden in der Schweiz erste kollektive Haushalte gegründet. Die Zahl stieg im Verlauf der 1970er-Jahre stark an.

Mit Wohngemeinschaften der 1968er-Bewegung verbindet man freie Liebe und Drogenkonsum. War es wirklich so wild oder handelt es sich bei diesen Bildern mehr um Phantasmen?
Es gab sicher eine gewisse Offenheit diesen Themen gegenüber, es wird aber auch übertrieben. Eine Studie aus den 1970er-Jahren kam zum Schluss, dass die Mehrheit der Kommunenbewohnerinnen und -bewohner in gewöhnlichen Paarbeziehungen lebten.

Und wie verhielt es sich mit Drogen?
Leichte Drogen wie Alkohol, Haschisch und teils auch LSD waren verbreitet. Harte Drogen waren aber die Ausnahme. Das wohl radikalste Beispiel war die «mobile Kommune», die in verschiedenen Städten Ableger hatte. Dort konsumierten die Bewohner auch Heroin, Paarbeziehungen waren verpönt und einzelne Frauen prostituierten sich sogar. Aber das war, wie gesagt, eine grosse Ausnahme.

Wieso sind WGs ausgerechnet in dieser Zeit aufgekommen?
Es war generell eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs. Der Jugend, welche den Krieg nicht mehr erlebt hatte, waren die Sicherheitsbedürfnisse der älteren Generation fremd. Es bestand das Bedürfnis, bestehende Normen zu hinterfragen und aus der Einöde der Kleinfamilie auszubrechen.

Wie reagierte die eher konservativ geprägte Mehrheitsgesellschaft auf das neue Phänomen?
Mit grossem Unbehagen. Polizeifichen zeugen von Meldungen durch Personen, die sich sehr verunsichert zeigten, wenn in ihrer Nachbarschaft eine Kommune entstand. Sie beschwerten sich etwa über die unsteten Lebensstile der Bewohner. «Den ganzen Tag liegen sie im Bette und nachts herrscht in der Wohnung viel Betrieb», meldete etwa eine Frau der Polizei.

Waren die Kommunen auch staatlicher Repression wie etwa Hausdurchsuchungen ausgesetzt?
Hausdurchsuchungen gab es nur vereinzelt. Ein viel grösseres Problem für die Wohngemeinschaften waren die Eigentümer. So war es extrem schwierig, als Wohngemeinschaft überhaupt Wohnraum zu finden. Einerseits herrschte in den Städten Wohnungsnot, andererseits hatten die Vermieter Vorbehalte gegen Lebensmodelle jenseits der Kleinfamilie.

Sie betonen als Motiv der Kommunenbewohner die Kritik an der Kleinfamilie. Was für eine Rolle spielten politische Überzeugungen?
Anfang der 1970er-Jahre hatte ein grosser Teil der Kommunarden einen politischen Anspruch. Viele Wohngemeinschaften verstanden sich aber wie die berühmte Kommune 1 in Berlin als politische Kampfeinheit. Das gemeinsame Wohnen erleichterte die politische Arbeit. Die Kommunen hatten teils auch ganze konkrete politische Ausrichtungen. Es gab marxistische Kommunen, trotzkistische oder auch anarchistische. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre kamen dann die Landkommunen auf. Der Glaube an die grosse Umwälzungen ist da schon abhandengekommen und die Selbstversorgung gewann an Bedeutung.

Waren die Wohngemeinschaften einfach Basis für den politischen Kampf und soziales Experimentierfeld der Bewohner oder hatten sie auch noch weitere Funktionen für die Bewegung?
Es gab zwar auch damals schon viele Studenten, die in Kommunen wohnten, weil sie sich schlicht keine eigene Wohnung leisten konnten. WGs waren zudem wichtige Treffpunkte, man lernte Gleichgesinnte kennen und konnte sich vernetzen. Es gab einen intensiven Austausch zwischen den verschiedenen Wohnprojekten. Allerdings war in der 1980er-Bewegung die Bedeutung der Wohngemeinschaften grösser. Es gab zahlenmässig viel mehr, zudem fanden in Wohnprojekten vermehrt Feste und kulturelle Aktivitäten statt. Kollektive Wohnformen haben bis heute eine Bedeutung für die politische Vernetzung.

Heute wohnen viele Studenten in WGs, die wenigsten machen dies aber aus politischen Gründen. Oder sehen Sie zwischen den heutigen WGs und den Kommunen der 68er-Bewegung noch Gemeinsamkeiten?
Tatsächlich dominieren heute «Zweck-WGs». Da geht es oft hauptsächlich darum, billig zu wohnen oder Kontakte mit Gleichaltrigen zu knüpfen. Es gibt aber durchaus noch Wohngemeinschaften, in denen man versucht, andere Modelle als die Kleinfamilie auszuprobieren. In den letzten Jahrzehnten hat die Vielfalt an Formen des kollektiven Wohnens sogar zugenommen. Ich denke etwa an Alters-WGs, betreute WGs und auch an Clusterwohnungen, die eine Mischung zwischen Privatsphäre und kollektivem Wohnen ermöglichen.



Der Stadthistoriker Thomas Stahel dissertierte zu stadt- und wohnpolitischen Bewegungen in Zürich nach 1968. Eine überarbeitete Version wurde unter dem Titel Wo-Wo-Wonige! veröffentlicht.

Text: Fabian Christl
Bilder: Franziska Rothenbühler
Video: Frank Geister
Umsetzung: Gianna Blum

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