Familien und Albanern wird die Länggasse zu teuer

Weniger Durchmischung und höhere Mieten: Die Wohnungsnot in der Länggasse und andern Berner Quartieren ist ein entscheidendes Wahlkampfthema. Die Rezepte sind höchst unterschiedlich.

Die frisch renovierten 5,5-Zimmer-Wohnungen oberhalb der Berner Länggassapotheke wären wegen ihrer Grösse für Familien gut geeignet. Doch nur eine der vier Wohnungen hat per 1. Oktober eine Familie bezogen, wie der Vermieter auf Anfrage sagt. Dies liegt wohl auch am Mietpreis von 3425 Franken pro Monat – vor der Renovation lag er noch um gut 1000 Franken tiefer.

Dass renovierte Wohnungen wie die an der Länggassstrasse 28 oft nicht mehr von Familien bewohnt werden, bereitet Quartiervereinspräsident Orrin Agoues Sorgen. «Dies könnte unter Umständen die noch gute Durchmischung der Länggasse gefährden», meint er. Agoues weiss sogar von Familien, die sich mit zwei oder drei Kindern in eine 3-Zimmerwohnung zwängen, nur um weiterhin in der Länggasse leben zu können.

Von den vier 5,5-Zimmerwohnungen oberhalb der Länggassapotheke ist nur eine vermietet.

Wohnraum ist nicht nur in der Länggasse, sondern in der ganzen Stadt knapp. Die Wohnungsfrage ist darum auch ein Thema auf den Prospekten für Wahlen vom 27. November. Für die bürgerlichen Parteien ist klar, dass die rot-grüne Stadtregierung mit ihren «Überregulierungen» den Wohnungsbau behindert, was zu einem Anstieg der Mietpreise geführt habe.

Die rot-grünen Parteien hingegen möchten in Zukunft so viele genossenschaftliche Wohnungen bauen wie möglich. So würden heute die preisgünstigen Wohnungen der Zukunft gebaut, argumentieren sie. Zudem solle die Stadt eine möglichst aktive Rolle als Immobilienbesitzerin einnehmen und selber Wohnungen vermieten.

Der Wohnraum ist in der ganzen Stadt knapp.

Das Arbeiterquartier ist teuer geworden

In einer solche Wohnung an der Mittelstrasse 17 lebt Martin von Dach mit seiner fünfköpfigen Familie. Hier direkt neben dem Café Sattler und nur wenige Häuser von der Länggassapotheke entfernt bezahlt er für die 4-Zimmerwohnung pro Monat 1800 Franken. Die Liegenschaft gehört der Stadt, die Wohnungen werden nur an Familien vermietet.

Martin von Dach bezahlt für seine 4-Zimmerwohnung 1800 Franken.

Martin von Dach über seine Wohnsituation in der Länggasse:

Wie günstig von Dachs Mietpreis ist, zeigt ein Blick in die Statistik. Die Durchschnittsmiete im Stadtbezirk Länggasse-Felsenau hat in den vergangenen zehn Jahren um 13 Prozent zugenommen, wie das Immo-Monitoring der Zürcher Immobilienfirma Wüest und Partner zeigt. Für eine 80 Quadratmeter grosse 3-Zimmer-Mietwohnung bezahlt man heute im Länggassquartier pro Monat durchschnittlich 1733 Franken – ohne Nebenkosten. In den anderen Stadtteilen war der Anstieg der Mietpreise ähnlich hoch. Das ehemalige Arbeiterquartier Länggasse ist nach der Innenstadt jedoch das teuerste Quartier.

Die Mieten sind in 10 Jahren um 13 Prozent gestiegen.

Im Haus an der Mittelstrasse 40 und 42 muss bald mehr Miete bezahlt werden. Überquellende Briefkästen und namenlose Klingelschilder verraten, dass die meisten Mieter per Ende Oktober ausziehen müssen.

Überquellende Briefkästen und namenlose Klingelschilder: Ende Oktober wohnt hier niemand mehr.

Die Ausländer kommen aus Deutschland

Ein älterer Herr hat seine Wohnung noch nicht geräumt. Den Namen will der aus Albanien stammende Mann aus Angst vor Problemen bei der Wohnungssuche nicht in der Zeitung lesen.

Die Nachnamen auf den noch angeschriebenen Briefkästen lassen darauf schliessen, dass er nicht der einzige Ausländer ist, der die Mittelstrasse 40 und 42 bewohnte

Viele von ihnen verlassen die Länggasse wohl definitiv. So leben heute 38 Prozent weniger Italiener und 37 Prozent weniger Spanier in der Länggasse als noch im Jahr 2000. Länggassbewohner, die einst in Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina oder Kroatien zu Hause waren, gibt es nicht einmal mehr halb so viele wie früher. Dies zeigen Zahlen des statistischen Amtes der Stadt Bern. Sie ziehen nach Ostermundigen, Münsingen, Bremgarten und in andere Vorortsgemeinden.

Viele der ausländischen Mieter verlassen die Länggasse wohl definitiv.

Dennoch leben in der Länggasse heute mehr Ausländer, wofür die Deutschen sorgen: Ihre Zahl hat sich in der gleichen Zeit mehr als verdoppelt. Auffällig dabei: Die wegziehenden Ausländergruppen verdienen im Durchschnitt weniger als die Schweizer, die zuziehenden Deutschen mehr.

«Als ich vor 20 Jahren in die Schweiz und in diese Wohnung gezogen bin, konnte ich auf meinem Balkon noch Autos zählen», sagt der Albaner, während er den Briefkasten leert. Nun sei es hier ruhig. Und ruhig bedeute halt teuer.

Verkehrsberuhigungen haben die Länggasse aufgewertet – und das Wohnen verteuert.

Verschiedene Strassen hier sind in den letzten Jahren autofrei geworden, der Bau des Neufeldtunnels hat aus der verkehrsbelasteten Neubrückstrasse eine Quartierstrasse gemacht. Muss der Albaner ausziehen, weil das Quartier zu stark aufgewertet wurde? Ja, sagen Politiker der ganz linken Parteien wie die Alternative Linke (AL).

Die Kleinparteien bekämpfen immer wieder Wohnbauprojekte der rot-grünen Stadtratsmehrheit, die ihrer Meinung nach zu stark auf Wachstum ausgerichtet sind – oft auch in einer Allianz mit rechten Parteien. Zum letzten Mal geschah dies bei der Abstimmung über das Viererfeld im Juni.

Die Stimmberechtigten des Bezirks Länggasse-Felsenau sind dieser wachstumskritischen Parole gefolgt – hatten jedoch fast alle andern Quartiere gegen sich. Die Länggasse wird also früher oder später 3000 neue Einwohner zählen. Das Viererfeld ist dabei nur eines von zahlreichen Wohnbauprojekten, das in den nächsten Jahren realisiert werden soll.

Auch der lokale Geschäftemix hat sich gewandelt. Während Cafés und Restaurants von den Pollern profitieren, beklagen sich Geschäfte, die auf Kunden von ausserhalb des Quartiers angewiesen sind.

Wer auf Kunden von ausserhalb zählt, beklagt sich.

«Ich habe einen Drittel meines Detailhandels-Umsatzes eingebüsst.» – Reto Lehmann, Metzger

«Ich habe ein Drittel meines Detailhandelsumsatzes eingebüsst. Das tat weh», sagt Reto Lehmann, der an der parallel zur Mittelstrasse verlaufenden Neufeldstrasse eine Metzgerei führt. Vor allem ehemalige Kunden aus Bremgarten würden ausbleiben.

Reto Lehmann über die Veränderungen in der Länggasse:

Wie Reto Lehmann mit den Veränderungen umgeht:

Andere Geschäfte wie der Kiosk Trivigno an der Neubrückstrasse sind ganz verschwunden. Zu gross war der Umsatzeinbruch wegen der fehlenden Autopendler, wie der Betreiber vor der Schliessung sagte.

Auch an der Berchtoldstrasse musste Marktfahrer Michael Büchi vor zwei Jahren seine Olivenproduktion aufgeben, die Räumlichkeiten wurden in Wohnraum umgewandelt. Für die 4-Zimmerwohnung mit Gartenzugang bezahlt man nun 3450 Franken pro Monat – ohne Nebenkosten, versteht sich.

Der Kiosk Trivigno an der Neubrückstrasse: Er hat die Aufwertung des Quartiers nicht überlebt.

Wohnpolitik seit 2012: Rot-grünes Powerplay in Wohnungsfragen

Bei Wohnvorlagen kam es nur zu knappen Entscheiden, wenn ganz linke Parteien der Rot-Grün-Mitte-Allianz die Gefolgschaft verweigerten.

Im zweiten Anlauf klappte es dann doch noch: Bern sagte im Juni Ja zur Überbauung Viererfeld. Quasi fast in letzter Minute seiner Amtszeit brachte Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP) das Grossprojekt für über 1000 Wohnungen doch noch auf Kurs.
Der Abstimmungskampf war für Rot-Grün-Mitte kein Zuckerschlecken. Eine Allianz aus den bürgerlichen Parteien SVP, FDP, BDP und CVP sowie der Links-aussen-Parteien Alternative Linke(AL), PdA und Grüne Partei Bern (GPB) bekämpfte die Vorlage. Die Bürgerlichen lehnten die Vorlage ab, weil sie in der knappen Anzahl Parkplätze und dem hohen Anteil an genossenschaftlichen Wohnungen eine «ideologische Erziehung» sahen. Die Linksaussen-Parteien sagten Nein, weil sie gegenüber Wachstum grundsätzlich kritisch eingestellt sind. Schliesslich legten 53 Prozent der Stimmberechtigen ein Ja in die Urne – ein relativ knappes Resultat.

Viele Bauprojekte unbestritten

Knapp wurde es seit den letzten Wahlen 2012 in Wohnungsfragen generell nur dann, wenn die ganz Linke konsequent mit Rechts zusammenspannte. Andere Volksabstimmungen über Wohnbauprojekte waren an der Urne jeweils unbestritten und gingen ganz nach Wunsch der rot-grünen Stadtregierung aus. So etwa die Abstimmung über die Überbauung beim Tramdepot Burgernziel vergangenes Jahr oder die Volksbefragung zum Wohnbauprojekt bei der Riedbachstrasse letzten Monat. Die SVP hatte die Vorlagen jeweils allein auf weiter Flur bekämpft.

Allianz führt Initiative zu Erfolg

Dass Rot-Grün-Mitte in Wohnungsfragen in der Stadt Bern in der Regel das Sagen hat, zeigte sich auch bei der Abstimmung über die Wohnbauinitiative. Eine breite Allianz von ganz links bis GFL setzte sich an der Urne klar durch. In Zukunft muss bei Neu- und Einzonungen mindestens ein Drittel der Fläche mit preisgünstigen Wohnungen bebaut oder an gemeinnützige Wohnbauträger abgegeben werden.

Doch auch die Parteien dieser Allianz verfolgen unterschiedliche Ziele. Während für die GFL der gemeinnützige Wohnungsbau nur eine Möglichkeit unter vielen ist, sieht das Grüne Bündnis diesen als die Chance, damit «ökologisches Wohnen im Zentrum bezahlbar bleibt». Auch die SP will Genossenschaften noch stärker fördern, im Städtevergleich hinke Bern hinterher.

Die Bürgerlichen bekämpften die Initiative erfolglos. Der Berner Wohnungsmarkt kranke schon heute an den Überregulierungen, hiess es seitens der Parteien BDP, FDP und SVP unisono. Mit weniger Gesetzen und Vorgaben werde es für Investoren attraktiver zu bauen, auf diese Weise könnte effizient mehr Wohnraum geschaffen werden. Ein Sieg auf Zeit gelang den Bürgerlichen trotzdem: die Initative ist durch eine Beschwerde des Hauseigentümerverbandes (HEV) vorderhand blockiert.

Text: Simon Preisig
Bilder: Franziska Scheidegger
Umsetzung: Christian Zellweger

© Tamedia