Aufstand im Seeland 

Um eine der letzten Lücken im Strassennetz zu schliessen, sollte eine Autobahn quer durch das Zentrum von Biel gebaut werden.

Eine vielfältige Bewegung hat den Milliardenplan gestoppt.

Anatomie eines erfolgreichen Bürgerprotests.

Autor: Calum MacKenzie, Fotos: Adrian Moser, Umsetzung: Carlo Senn

«Westumfahrung von Biel: Kanton beantragt Sistierung der Planung». Der Satz löste am 25. Februar 2019 bei Tausenden See­ländern Jubel aus. Dieser Satz, der Titel einer Mitteilung aus der bernischen Baudirektion, bedeutete den Stopp für ein Projekt, in das schon 67 Steuermillionen investiert worden waren und das die Stadt am Jurafuss hätte aufwerten, ja retten sollen.

Doch den Westast der A5 sehen viele längst nicht mehr als Rettung, sondern als Katastrophe. Wie konnte es zum Meinungswandel kommen? Wie schafft es eine lose Bürgerbewegung, einen von Bund, Kanton und Stadt gewollten Plan zu stoppen?

Die Netzlücke

Denis Rossel, Anwohner und Gegner der geplanten Autobahn.

Denis Rossel, Anwohner und Gegner der geplanten Autobahn.

Denis Rossels Haus steht nicht weit vom «Tatort», wie er ihn nennt. Die kurze Velofahrt von dort ins Bieler Stadtzentrum führt vorbei an den Einfamilienhäusern und Wohnblocks, die einem tiefen, breiten Betongraben weichen sollten. Unweit vom Bahnhof fährt er über einen kleinen, begrünten Kreisel. «Hier würden täglich mehr Autos durchbrausen als durch den Gotthardtunnel», sagt er. «Das geht doch nicht.»

Hier, keine fünf Gehminuten vom Bieler Bahnhof, sollte gemäss kantonalem Plan die Stadt mit der Autobahn verbunden werden – über einen mehrstöckigen Anschluss. Die Bieler Innenstadt markiert eine der letzten Lücken im nationalen Strassennetz: Die A5 von Neuenburg nach Solothurn führt entlang des Bielersees bis zum Rand Biels. Erst auf der anderen Seite der Stadt geht es weiter. Der Westast soll die Lücke schliessen, und das hauptsächlich unterirdisch.


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Aber eben nicht ganz. Denn die Stadt Biel will sich mithilfe des Bundesgeldes nicht nur vom Transit-, sondern auch vom ­Binnenverkehr entlasten, der 80 Prozent der Fahrzeuge auf Bieler Strassen ausmacht. Nach jahrzehntelanger Diskussion, Bieler Lobbying und Dutzenden verworfenen Plänen genehmigte der Bundesrat 2014 das aktuelle Projekt: zwei Anschlüsse auf Stadtboden, um auch den hausgemachten Verkehr unter die Erde zu bringen. Einer in der Seevorstadt, einer südlich des Bahnhofs.

«Hier würden täglich mehr Autos durchbrausen, als durch den Gotthardtunnel»

So sieht der geplante Anschluss aus. Visualisierung: Tiefbauamt Kanton Bern

So sieht der geplante Anschluss aus. Visualisierung: Tiefbauamt Kanton Bern

Die Tunneleinfahrten verlangen, dass man zwei Hunderte Meter lange Schneisen durch die Stadt zieht. Das heisst Grundstücke enteignen und Häuser abreissen. Das heisst, während fünfzehn Jahren auf der Liegewiese am Strandboden eine Baustelle einrichten, ebenso beim gut genutzten Sportplatz Mühlefeld, den Denis Rossel von seinem Balkon sieht.

«Der Sportplatz ist mehrere Sozialarbeiter wert, das würde jahrelang fehlen», sagt Rossel. Auf früheren Planentwürfen war auch sein Haus verschwunden. «Nach jetzigem Stand sind wir gerettet.» Weniger Glück haben die Balmers, die um die Ecke wohnen, an der Stelle, wo die Autobahn wieder unter die Oberfläche tauchen soll.

Die Wut und die Ohnmacht der Direktbetroffenen.

Ihr Haus müsste der Autobahn weichen: Westast-Gegner Marie und Paul Balmer.

Ihr Haus müsste der Autobahn weichen: Westast-Gegner Marie und Paul Balmer.

Der zweite Anschluss würde in der Seevorstadt gebaut.

Der zweite Anschluss würde in der Seevorstadt gebaut.

Paul Balmer wurde 1942 im Haus am Bach geboren, er erinnert sich an die Zeit, als vor der Tür noch Kühe weideten. Hier haben seine Frau Marie und er eine Familie gegründet, sind zusammen alt geworden. Zum Mittagessen gönnen sie sich im Gartenhäuschen ein Glas Rotwein. «Wir haben da gelernt, wie man gut lebt», sagt er.

Als die Enteignungsanzeige vor zwei Jahren mit der Post kam, war sie keine Überraschung. Viele Nachbarn sind schon aus ihren verurteilten Häusern ausgezogen. Doch die Balmers sagen sich: «Etwas Besseres finden wir nie.»

Die Wut und die Ohnmacht der Direktbetroffenen: Das ist der Nährboden des Widerstands, der sich in jener Zeit zu regen beginnt.

Die Rebellen

Noch wurde die Autobahndiskussion damals vor allem in Planungsbüros geführt, für die allermeisten Seeländer war sie kaum wahrnehmbar. Autobahnbau ist, untypisch für die Schweiz, nicht die Sache des Volks: Das 1960 in der Bundesversammlung festgelegte Netz wird von den Kantonen realisiert, der Bund zahlt, lokale Behörden dürfen sich nur begrenzt einbringen. 

Nach dem Entscheid für die beiden offenen Anschlüsse scheint Widerstand aussichtslos. Trotzdem wird Denis Rossel mit anderen Anwohnern der Schneise aktiv. Wochenlang studiert er Bauvorschriften, schreibt Flyer, sucht den Kontakt zu Gleich­gesinnten wie Nachbar Alfred Steinmann, Primarlehrer und SP-Vertreter im Bieler Stadtrat. Die kleine Gruppe lanciert erste Protestaktionen. «Als Direktbetroffene konnten wir frech sein», erzählt Rossel und schiebt einen Flyer über den Balkontisch: Ein blutverschmierter Dolch schneidet eine Wunde ins Stadtbild.

Alfred Steinmann, Bieler SP-Stadtrat und Gegner der ersten Stunde.

Alfred Steinmann, Bieler SP-Stadtrat und Gegner der ersten Stunde.

Steinmann stellt sich gegen das von der links dominierten Bieler Stadtregierung mitgetragene Vorhaben. In der SP, seiner eigenen Partei, hatte er damals wenig Rückhalt. «Sie hatten das hehre Ziel, die Quartiere vom Verkehr zu befreien.» Dabei bewirkten doch Autobahnanschlüsse mitten im Stadtraum genau das Gegenteil, sagt Steinmann.

Auch die Architekten Ivo Thalmann und Catherine Preiswerk bekämpfen das Projekt aktiv.

Auch die Architekten Ivo Thalmann und Catherine Preiswerk bekämpfen das Projekt aktiv.

Die Profis

2015 gründen zwei Architekten und zwei Raumplaner das Komitee «Westast so nicht!». Darunter ist Ivo Thalmann, Bieler Architekt, Mitglied des Berner Heimatschutzes und Liebhaber und Besitzer schöner Autos aus den Sechzigern. «Den Gegnern wirft man gerne vor, sie seien autofeindliche Fundis. Bei mir funktioniert das nicht.»

Thalmann und seine Gruppe stellen den Plan der Behörden als unvernünftig dar. Nicht vernünftig sei etwa, das Verkehrsproblem eines «Stedtli» wie Biel mit letztlich zehn geplanten Autobahnanschlüssen zu lösen. Die im Komitee organisierten Gegner wollen nicht als Verhinderer dastehen, sondern alternative Vorschläge entwickeln. «Biel hat Potenzial, das aktiviert werden kann. Aber nicht mit diesem Plan aus der Zeit unserer Grossväter.» Es geht nicht mehr nur um das Autobahnprojekt, sondern um eine Vision für die Stadt. Thalmann sagt es so: «Biel war mal die Stadt der Zukunft, kommt aber schon ewig nicht in der Zukunft an.»

Das Komitee macht sich zur Aufgabe, den losen Widerstand zu vereinen und zu koordinieren. Denis Rossel, die Balmers und Alfred Steinmann treten bei, dazu stösst jetzt auch Lokalprominenz: etwa Catherine Duttweiler, die ehemalige Chefredaktorin des «Bieler Tagblatts», und Architekturkritiker Benedikt Loderer. Dutzende Profis – Ingenieure, Juristinnen, Umweltschützer, Journalistinnen – bringen ihr Know-how in die Bewegung ein. 

Eine von ihnen ist Architektin Catherine Preiswerk, ebenfalls vom Berner Heimatschutz. «Ich habe mein Tagesgeschäft zurückgestellt und wurde zur Aktendetektivin.» Sie durchkämmt die Tausenden Seiten der Planungsauflage. Darin gibt es «böse Überraschungen». Etwa die Kosten von 717000 Franken pro Meter Westast, den Abbruch schützenswerter Gebäude und den Verlust von 745 Bäumen.

Aus solchen Zahlen macht das Komitee Schlagworte. Medienversierte Komiteemitglieder erfinden «Stadtwanderungen», die das Emotionale mit dem Technischen verbinden: Laien begehen zusammen mit Fachleuten das Gebiet des Bauprojekts, der Eingriff in die Stadt wird vor Augen geführt und erlebbar gemacht. Die Behörden geraten mit ihren herkömmlichen Methoden –  Infoabende, Medienmitteilungen – ins kommunikative Hintertreffen. Und verlieren allmählich die Deutungshoheit über das Thema.

Ein Wendepunkt im Informationskrieg ist der 8. November 2017, ein Mittwoch. An diesem Wochentag flattert das Gratisblatt «Biel Bienne» in die Briefkästen der Region. Die Ausgabe enthält eine Beilage, eine achtseitige Broschüre mit dem Titel «Westast so besser!». Das Komitee präsentiert darin ein Alternativprojekt: einen fünf Kilometer langen Tunnel ohne Anschlüsse in der Stadt. Die Röhre würde unter dem Grundwasser hindurchführen und deshalb weniger kosten und schneller gebaut sein, behaupten die Planer des Komitees. Sie haben den Vorschlag über Monate ehrenamtlich entwickelt. Damit sei das Komitee zum ernst zu nehmenden Player geworden, sagt Architekt Thalmann.

Das Komitee hat auch eine Portion Glück: Vervollständigt wird der Plan erst mit der Hilfe eines erfahrenen Tunnel­ingenieurs, den Thalmann auf einer Zugreise zufällig im Speisewagen getroffen hat.

Später untersuchen Experten des Kantons das Gegenprojekt. Ihr Urteil: Der Tunnel könnte gebaut werden, der Eingriff in die Stadt wäre gering, die Kosten­berechnungen stimmten. Sie halten aber fest, dass der ursprüngliche Plan für mehr Verkehrsberuhigung und aufgewertete Quartiere sorge.

Die Demos

Der Stammtisch im Bieler Farelhaus wird zum Demohauptquartier.

Demo-Organisatorinnen Sabine Kronenberg, Susanne Gafner und Sarah Fuhrimann.

Demo-Organisatorinnen Sabine Kronenberg, Susanne Gafner und Sarah Fuhrimann.

Dass der Streit eine neue Dimension angenommen hat, zeigt sich auf den Strassen. Auf einmal marschieren dort Verkäuferinnen, Gymnasiasten, einfache Bürger, blasen in Pfeifen und schlagen auf Pfannendeckel. Innert kurzer Zeit hat die Infokampagne der Gegner Tausende Bieler mobilisiert. Im Herbst 2017 kommen mehr als 3000 an die Kundgebung von «Biel wird laut».

Hinter dem Slogan stecken Sarah Fuhrimann, Sabine Kronenberg und Susanne Gafner. Sie  sitzen bei Kaffee im Farelhaus im Zentrum Biels. «Der Schritt zur Demo war ein grosser», sagt Fuhrimann. «Ich hatte so etwas noch nie gemacht.» Doch viele Bieler hätten auf eine Chance gewartet, sich einzubringen, so Gafner. «Die Demo war ein Weg, das Thema aus der Nerd-Ecke zu holen», fügt Kronenberg hinzu. «Die Fachleute vom Komitee zeigen, dass es nüchterne Kritik gibt. Wir bedienten die Emotionen.»

Der Stammtisch im Farelhaus wird zum Demohauptquartier: Grafikerin Gafner gestaltet Plakate, Kommunikationsfachfrau Kronenberg schreibt Aufrufe.  Zeichenlehrerin Fuhrimann kümmert sich um die Behörden und die Mobilisierung in sozialen Medien und auf der Strasse. Das Team widerspiegelt im Kleinformat, was der gesamten Gegnerbewegung Schub verleiht: die Bündelung von Talenten.

Protest gegen den Westast. Bild: Keystone

Protest gegen den Westast. Bild: Keystone

Das Konzept der Frauen bewährt sich bei der Zweitauflage: Am 3. November 2018 gehen 5000 Menschen auf die Strasse. Die letzte Kundgebung dieser Grösse liegt in Biel Jahrzehnte zurück. Zehn Tage später publiziert das «Bieler Tagblatt» die Resultate einer Umfrage: Nur 21 Prozent der Befragten in der Region Biel befürworten den ursprünglichen Westast-Plan. Satte 49 Prozent bevorzugen den Gegenvorschlag. 16 Prozent verlangen, auf die Westumfahrung ganz zu verzichten. Solche Werte wären noch ein Jahr zuvor undenkbar gewesen. Nun horchen die Behörden auf.

Der Dialog

Danach geht es, gemessen an der Vorgeschichte, schnell: Im Dezember 2018 beschliessen die Behörden, Befürworter und Gegner an einen runden Tisch zu holen. Die Dialoggruppe hat den Auftrag, eine «breit abgestützte» Antwort auf die Westast-Frage zu finden. Der Prozess ist ergebnisoffen. Faktisch ist das ursprüngliche Projekt aber wohl erledigt. Im Bieler Stadtrat sowie auf Bundesebene hat es heute nur noch wenige Verteidiger. 

«Die Seeländer sind aufmüpfig. Sie wissen, was sie nicht wollen», sagt Regierungsrat Christoph Neuhaus, selber ein Seeländer. Mitte 2018, kurz nach seinem Wechsel in die Baudirektion, hatte der SVP-Mann die Überarbeitung des Westasts noch ausgeschlossen. Jetzt sagt er: «Es ist schon ein Riesending, und man weiss nicht, was es bringt.» Die Bedeutung des Widerstands für seinen Sinneswandel spielt er herunter. «Wegen einer Demo breche ich nicht ein.» Man müsse aber zuhören, «und diese Stimmen wurden lange nicht gehört».

«Wir hatten nie vor, die Stadt mit Autos zu überfluten.»

Gilbert Hürsch, Geschäftsleiter der Wirtschaftskammer Biel-Seeland, Westast-Befürworter.

Gilbert Hürsch, Geschäftsleiter der Wirtschaftskammer Biel-Seeland, Westast-Befürworter.

Ihren Ärger darüber, dass man zurück auf Feld eins kehrt, können die Westast-Befürworter nicht verbergen. Die Behörden hätten es verpasst, die Bevölkerung vollumfänglich über das Projekt zu informieren, sagt Gilbert Hürsch. «Wir hatten nie vor, die Stadt mit Autos zu überfluten», sagt der Geschäftsleiter der Wirtschaftskammer Biel-Seeland. «Der Verkehr soll unter­irdisch geführt und die Lebensqualität verbessert werden.» Doch Hürsch sagt auch: «Ich bin bereit, mich belehren zu lassen.» Er hoffe auf konstruktive Gespräche in der Dialoggruppe und sehe das Potenzial für eine spannende Diskussion.

Das Fest

Bleibt das ein frommer Wunsch? Bereits innerhalb der Widerstandsbewegung gibt es keine einheitliche Vision für das Biel der Zukunft. Im Lauf dieser Recherche hat sich gezeigt: Es gibt alles, von der Offenheit für einen Kompromiss mit einem einzigen Stadtanschluss über die Vorliebe für den Gegenvorschlag mit Tunnel bis zur Forderung nach einem kompletten Strassenbaumoratorium. Die Vielfalt, die eine Stärke der Bewegung ist, birgt also auch Gefahren. Die ersten Sitzungen der Dialoggruppe, betonen jedoch Teilnehmer, seien konstruktiv verlaufen.

Ein warmer Abend Ende August in Biel. Bei der alten Giesserei Müller, die auf der geplanten Schneise steht, findet ein Strassenfest der Westast-Gegner statt. Sie feiern ihren Etappensieg bei Seeländer Wein und Bier. Inzwischen sind sie schweizweit ein Vorbild: An die Stadtwanderungen kommen Aktivisten aus Luzern oder Bern, wo ebenfalls umstrittene Autobahnprojekte anstehen. Sie wollen das Bieler Erfolgsrezept kopieren: Leidenschaft durch Betroffenheit, professionelle Öffentlichkeitsarbeit, sachliche Kritik und das Engagement zahlloser Freiwilliger.

Auch Denis Rossel ist beim Fest dabei. Für ihn ist der Abend auch ein Zeichen, dass der Widerstand nicht nachlässt. «Es sieht gut aus, aber es ist noch nicht vorbei.»

Zurück ans Zeichenbrett

Den Bau einer Westumfahrung von Biel bedingt der Netzbeschluss von 1960. In diesem Jahr legten Parlament und Bundesrat die Routen der Nationalstrassen fest. Es war die Zeit, als Autobahnen noch Bewegungsfreiheit, Zukunft und Wohlstand symbolisierten. Entsprechend setzten sich die Patrons des nördlichen Bielerseeufers dafür ein, dass die Strasse von Neuenburg nach Biel auf ihrer Seite statt im Seeland gebaut werde. Mit Erfolg: Heute durchtrennt ein graues Betonband die ansonsten idyllische Uferlandschaft; Biel wurde zum Hindernis, das die Autobahn irgendwie überwinden musste.

Lösungen dafür gab es über die Jahrzehnte einige: ein Tunnel durch den Jurafuss; eine Hochstrasse auf Pfeilern durch das Stadtzentrum; eine Unterführung auf der Westast-Linie mit diskreten, unterirdischen Anschlüssen. Letztere Variante schien in den Neunzigern machbar, bevor die Brandkatastrophen im Montblanc-Tunnel und im Gotthard zu einer Verschärfung der Brandschutzvorschriften führten. Autobahnanschlüsse müssen seither offen gebaut werden. So wurde der heute umstrittene Westast-Plan geboren. Die Kosten des Projekts beziffern die Behörden auf über zwei Milliarden Franken.

Alles wird geprüft

Die von der Behördendelegation – Bund, Kanton und die betroffenen Gemeinden – gegründete Dialoggruppe aus Westast-Gegnern und -Befürwortern wird in ihrer Suche nach einer neuen Lösung auch alte Varianten überprüfen. Hans Werder, der unabhängige Leiter der Gruppe, bestätigt auf Anfrage, dass man selbst die «Nullvariante» – nichts tun – «sauber anschauen» werde. Zuerst will die Gruppe jedoch die Bieler Verkehrssituation gründlich untersuchen und eine Zukunftsvision dafür entwickeln. 

Der Auftrag der Behörden sei sehr breit abgefasst, so Werder, der einstige Generalsekretär des eidgenössischen Verkehrsdepartements Uvek. Der Spielraum der Dialoggruppe sei gross. Zwar seien ihre Empfehlungen, sofern sie sie beschliessen, nicht rechtlich bindend. Es seien aber schliesslich 1,2 Millionen Franken in die Gruppe investiert worden. «Wenn wir eine breit abgestützte Variante finden, die auch funktioniert, wird man das sehr ernsthaft anschauen.»



Der Westast und die Wahlen

Die Autobahnfrage beschäftigt die Bieler Bevölkerung wie kein anderes Thema. Im Stadtrat hat ein Umdenken stattgefunden: Während sich in fast allen Fraktionen noch Befürworter der Stadtanschlüsse finden, stehen nur noch bürgerliche Parteien mehrheitlich hinter dem Konzept, das einst vom Parlament mitgetragen wurde. «Auch wir sehen die grossen Auswirkungen der einzelnen Bauphasen», sagt FDP-Stadtrat Peter Bohnenblust. «Aber man muss den enormen Nutzen der Anschlüsse sehen.» In seiner Partei, so SP-Stadtrat Alfred Steinmann, habe es hingegen einen «kontinuierlichen, deutlichen Umschwung» gegeben. Sabine Kronenberg von «Biel wird laut» war bis 2014 grünliberale Grossrätin. Die Kehrtwende der GLP hinterlässt bei ihr einen bitteren Nachgeschmack: «Erst als der Wind gedreht hatte, lenkte auch die GLP ein.» Bei anderen Parteien habe es sich ähnlich abgespielt. Kronenberg ist aus der GLP ausgetreten.

«Einige suchen noch ihren Weg», sagt Stadtpräsident Erich Fehr (SP). Selbst unter SVP-Stadträten gebe es Skepsis.  Aber auch Fehr sagt: «Da ist sicher eine Portion Opportunismus dabei.» Fehr hielt die beiden Anschlüsse noch 2016 für «die beste Lösung, um die Stadt endlich vom Verkehr zu befreien.» Dies erachte er noch heute als plausibel. Schon damals habe ihm aber vor allem die Bauzeit Sorgen gemacht. Die Diskussion habe sich von einer rein verkehrlichen zu einer gesellschaftspolitischen verschoben. Der Alternativvorschlag habe einen Dialog ermöglicht. «Dieser geht über ein reines Ja und Nein hinaus, deshalb hat sich der Gemeinderat dafür eingesetzt.» Dank der Verbesserung der Verkehrssituation nach der Eröffnung des Ostasts könne man sich die für den Dialog notwendige Zeit nehmen.

Die Debatte beschäftigt auch Bundespolitiker: Ständeratskandidatin Regula Rytz (Grüne) ist Komiteemitglied. Der bisherige Ständerat Hans Stöckli (SP) hat unter den Gegnern wegen seiner Rolle in der Planentwicklung wenig Freunde. «Wir haben alle interessierten Kreise offen und transparent informiert, integriert und angehört, ohne aber alle Anliegen aufnehmen zu können», so Stöckli. Am Ende sei die Empfehlung der beteiligten Behörden einstimmig gewesen. Er unterstütze heute die Suche nach einer besseren Lösung.

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