«An Schweizern kann man sich abarbeiten»

Rolf Lyssy (80) und Petra Volpe (46) drehen Filme über ein Land, das sie wütend macht.

Die Filmemacher im Zürcher Stadthaus. Fotos: Sabina Bobst

Die Filmemacher im Zürcher Stadthaus. Fotos: Sabina Bobst

Volpe: «Es gibt erstaunlich viel Kleingeist.»

Lyssy: «Man weiss gar nicht mehr, wohin man gehört.»

Mit Rolf Lyssy und Petra Volpe sprachen Pascal Blum und Christoph Schneider
Zürich

Frau Volpe, wann haben Sie «Die Schweizermacher» zum ersten Mal gesehen?

Volpe: Als Kind, da sah ich den Film mehrere Male im Fernsehen. «Die Schweizermacher» war in unserer Familie Kult: 1978 wurde mein Vater, ein Italiener, eingebürgert. Im selben Jahr, als der Film herauskam. Ich habe deswegen jahrelang geglaubt, die Schweizermacher seien auch zu uns gekommen und wir hätten bei ihren Besuchen schöne Kleider anziehen müssen. Das stimmt aber gar nicht, ich habe meine Mutter extra nochmals gefragt, und offenbar habe ich Film und Realität vermischt. Wahrscheinlich war mein Vater in Suhr über alle Zweifel erhaben, weil ihn eine Schweizerin geheiratet hat. Und weil meine Mutter, die Bäckerstochter, im Dorf bekannt war.

Sie leben heute in Berlin und New York, beschäftigen sich in Ihren Filmen aber mit der Schweiz: «Traumland» dreht sich um eine Prostituierte in Zürich, und als Autorin von «Heidi» haben Sie quasi einen Schweizer Urstoff übernommen. Lässt einen das Land nicht los?

Volpe: Ich musste weggehen, um über die Schweiz zu erzählen. Seit 18 Jahren lebe ich in Berlin, und mir fallen keine Geschichten ein, die dort spielen. Die Deutschen inspirieren mich nicht so richtig, die Schweizer dagegen schon. An denen kann man sich abarbeiten. Das heisst auch, dass man sich an sich selbst abarbeitet: Mein Verhältnis zur Schweiz ist ambivalent. Gerade «Die Schweizermacher» trifft den Kleinmut und die Ordnungsliebe der Schweizer genau. Und trotzdem bleibt die Darstellung zärtlich.

Nun drehen Sie auch eine Kinokomödie, sie heisst «Die göttliche Ordnung».

Volpe: Es ist eher eine Comedie humaine, etwas lustig, aber eigentlich …

Lyssy: ... nicht lustig.

Volpe: Nicht nur lustig, ja. Der Film spielt 1971, kurz bevor das Frauenstimmrecht eingeführt wird. Es geht um das politische Erwachen einer jungen Hausfrau vom Land. Mir geht es darum, zu zeigen, wie eng diese Welt war, wie sehr es diesen Ausbruch gebraucht hat.

Lyssy: Ein schönes Thema. Es zeigt eine Bruchstelle, und es steckt eine deutliche Kritik an der Schweizer Willensnation drin. Wir waren ja eine Männerorganisation!

Volpe: Wir sind es noch heute in vielen Bereichen. Neulich kam nach einem Podiumsgespräch ein älterer Herr zu mir und erklärte mir allen Ernstes, dass die Schweiz den Bach runtergehe, seit die Frauen auch Politik machen, Emanzipation sei ein Fluch. Man denkt dann: Ich weiss gar nicht, wo anfangen.

Sommerserie: Generationen im Gespräch

In unserer Sommerserie treffen Generationen aufeinander und reden über Veränderungen, die die Schweiz bewegen. Den Anfang machen Juso-Präsidentin Tamara Funiciello und Alt-Bundesrat Pascal Couchepin, die über eine bessere Welt philosophieren. In Teil zwei diskutieren Rolf Lyssy und Petra Volpe über den Schweizer Film, damals und heute. Zwei ehemalige Flight-Attendants der Swissair respektive Swiss landen im dritten Teil (online ab 1. August) beim Thema Wandel über den Wolken.

«Die Schweizermacher» (1978)

Trailer zu Lyssys Erfolgsfilm über Einbürgerung.

Konkurrenz, Schweizersein, Lachen: Petra Volpe und Rolf Lyssy beantworten Fragen. Video: Sabina Bobst

In «Die Schweizermacher» wurde ja auch die Frau nicht eingebürgert, die gearbeitet hat – als Tänzerin.

Lyssy: Eine Künstlerin!

Volpe: Eine halbe Prostituierte!

Lyssy: Mir scheint «Die göttliche Ordnung» wieder ein Film zu sein, der die Identitätsfrage stellt. Auch «Die Schweizermacher» fragte: Wer sind wir? Alle stellen sich diese Frage, aber wie wir damit umgehen, das ist das spezifisch Schweizerische. Ich glaube, in der Zeit der Globalisierung wird die Frage umso dringender. Man weiss ja gar nicht mehr, wohin man gehört.

Volpe: Oder umgekehrt: Was geschieht, wenn eine Gesellschaft zu klare Vorstellungen davon hat, wohin sie gehört?

Lyssy: Dann haben wir die populistischen Rechtsparteien.

Volpe: Oder eine Gesellschaft, die ihre Traditionen mit Händen und Füssen verteidigt. Das friert die Leute ein.

Stehen wir heute vor einer neuen Verspiesserung?

Lyssy: Sicher, es zeigt sich gerade in ganz Europa. Ich denke, das Problem ist der Graben zwischen der Urbanität und dem Ländlichen. Fremdenhass hat in der Stadt weniger Platz als auf dem Land, Städter haben auch mit Veränderungen weniger Probleme. Das kann bis zum Exzess gehen, wie man an den Abstimmungen sieht. Dass sich diese Kluft markant vergrössert hat, halte ich für eine fatale Entwicklung. Früher waren auch die Städte ländlicher. Heute gibt es kaum mehr Orte, an denen man sich so orientieren kann, dass man sich sicher fühlt. Kommt man vom Land, hat man damit noch mehr Mühe. Ich aber finde die Stadt toll, meine Filme spielen ja auch alle in Zürich.

Volpe: Uns in der Schweiz geht es so wahnsinnig gut, und trotzdem gibt es erstaunlich viel Kleingeist. Man vergisst schnell: Es ist einfach Glück, Schweizer zu sein. Man hat noch nichts geleistet, nur weil man hier geboren wurde.

Lyssy: Ich unterschreibe das, aber man läuft dabei Gefahr zu verallgemeinern. Die Biederen, das sind nicht alle. Es gibt auch die anderen, die Fortschrittlichen. An denen richte ich mich auf.

Volpe: Ja, als wir im Appenzell gedreht haben, sind wir sehr vielen warmherzigen Leuten begegnet, die uns geholfen haben. Es gibt eine bodenständige Herzlichkeit, die ist typisch schweizerisch.

Lyssy: Man sah es auch nach der Durchsetzungsinitiative: Zum Glück gibt es die jungen Leute von der Operation Libero. Das macht Hoffnung. Und es gibt einem Kraft, zu sagen: Okay, es lohnt sich ja doch, meine Arbeit und mein Versuch, die anderen nicht zu ändern, sondern ihnen etwas entgegenzusetzen. Wir bewegen uns alle auf einer äusserst dünnen Sperrholzplatte, und es braucht nicht viel, und sie bricht ein.

Wie begegnen Sie als Filmemacher der täglichen Newsflut?

Volpe: Mir wird jeden Tag schlecht. Die Schreckensnachrichten, die extreme Entwicklung nach rechts, Donald Trump, Boris Johnson, Brexit, Orlando, Istanbul. Man hat das Gefühl, dass die Welt dabei ist unterzugehen. Hattest du dieses Gefühl auch früher schon? Oder hat einfach jede Zeit ihre eigenen Horrornachrichten?

Lyssy: Mir geht es jetzt eigentlich auch so.

Volpe: Ich habe jetzt so gehofft, du sagst, es sei schon immer schlimm gewesen – nur weiss man heute viel mehr.

Lyssy: Ja, der Unterschied ist, dass man heute unmittelbarer daran teilnimmt. Das ist so schwer zu ertragen. Aber wenn ich mich an den Ungarnaufstand von 1956 erinnere, wie damals die Leute in Budapest zusammengeschossen wurden, das war hochdramatisch. Auch der Vietnamkrieg im Fernsehen war ein täglicher Horror. Da habe ich Magenweh bekommen. Heute, im Alter, kann ich es besser kanalisieren. Ich lasse mich nicht mehr von allem vergiften. Die Sofortnews lähmen uns, sie lenken uns ab und besetzen einen mit Dingen, die mit uns selbst nichts zu tun haben. Ich will nicht ignorant sein, aber gewisse Dinge will ich einfach nicht wissen.

Volpe: Ich weiss, was du meinst. Es ist eine Gratwanderung, man will informiert sein und trotzdem nicht runtergezogen werden von all den Schrecklichkeiten. Aber die Frage ist: Wie fühlt man etwas, ohne dass man so viel fühlt, dass man nicht mehr aufstehen kann?

Lyssy: Ich habe die Depression erlebt, und ich will es nicht mehr erleben. Man hat ja auch ein Recht, sich zu schützen.

«Leo Sonnyboy» (1989)

Trailer zu Lyssys Geschichte einer Scheinehe.

Lyssy und Volpe, Leben und Werk

1936

Rolf Lyssy wird am 25. Februar in Zürich geboren. Er lässt sich zuerst zum Fotografen ausbilden, bevor er als Cutter und Kameraassistent arbeitet.

1968

Lyssy dreht ohne Fördergeld sein Debüt «Eugen heisst wohlgeboren», eine Komödie um einen Mann, der vor seiner Hochzeit alle möglichen Vorkehrungen trifft.

1970

Petra Volpe wird im aargauischen Suhr geboren, ihr Vater ist Italiener, die Mutter Schweizerin. In seinem Kurzfilm «Vita parcoeur» nimmt Rolf Lyssy den neuen Fitnesstrend auf die Schippe.

1974

Lyssy dreht das stark beachtete Drama «Konfrontation» nach einem wahren Vorfall: dem Attentat auf den Leiter der NS-Auslandsorganisation in der Schweiz.

1978

Volpes Vater wird eingebürgert und Lyssys Komödie «Die Schweizermacher» wird ein Erfolg. Bis heute haben den Film in der Schweiz rund 941'000 Leute gesehen.

1987

Rolf Lyssy inszeniert am Theater Neumarkt «Alles klar» von Urs Widmer.

1992

Petra Volpe beginnt in Zürich ihr Kunststudium. Lyssy porträtiert in «Ein Trommler in der Wüste» seinen Bruder in Israel.

1994

Fürs Fernsehen dreht Lyssy den Spielfilm «Ein klarer Fall». Volpe wird in der Schweiz die erste Cutterin, die mit dem Computerprogramm Avid arbeitet und andere Cutter darin ausbildet.

2001

«Swiss Paradise» – so heisst ein autobiografischer Bericht, den Rolf Lyssy als Buch herausgibt. Petra Volpe schliesst ihre Ausbildung an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam ab.

2006

Volpe dreht Komödien fürs Fernsehen, etwa «Schönes Wochenende» oder «Kleine Fische». Von Lyssy kommt «Die Vitusmacher» ins Kino, ein Blick hinter die Kulissen von Fredi Murers «Vitus».

2012

Lyssy erhält den Ehrenpreis der Schweizer Filmakademie. Volpe dreht ihr Debüt «Traumland», das 2013 Premiere hat.

2016

Zuschauererfolg für Alain Gsponers «Heidi», geschrieben von Petra Volpe. Sie stellt ihre neue Komödie «Die göttliche Ordnung» fertig. Lyssy beginnt mit dem Dreh von «Die letzte Pointe».

Sei es «Die Schweizermacher» oder «Die göttliche Ordnung», die Reflexion über Identität scheint etwas sehr Schweizerisches zu sein. Haben wir hierzulande ein stärkeres Bewusstsein für solche Fragen?

Volpe: Nein, das machen auch andere Filmnationen. Ich glaube aber, Schweizer Filmen gelingt es leider einfach nicht besonders gut, etwas Universelles zu erzählen. Sie interessieren nicht einmal die Schweizer richtig. Es ist typisch, dass wir auch da Schwierigkeiten haben, über unsere Grenzen hinauszukommen.

Lyssy: Was man erzählt, ist wurscht. Es geht immer darum, wie man es erzählt, nämlich so, dass die Leute im Kino bleiben.

Volpe: Oder nur schon ins Kino kommen!

Lyssy: Mir ist wichtig, dass der Zuschauer, der aus dem Kino kommt, den Film weiterempfiehlt. Gelingt einem das, hat man ein Publikum. Aber das gilt für jeden Film wieder neu, niemand hat ein Abonnement auf Erfolg.

Müssen Sie sich, wenn Sie heute einen Film drehen, manchmal bewusst in Erinnerung rufen, wie es war, als Sie zum ersten Mal vom Kino überwältigt wurden?

Volpe: Ich bin mit dem Fernsehen aufgewachsen, meine Eltern gingen kaum je ins Kino. Wenn, dann war es ein Event: «Tarzan» im Dorfkino. Ich erinnere mich vor allem, wie wichtig es für meinen Vater war, in eine andere Welt abzutauchen, nach der Arbeit in der Fabrik aus dem Alltag aussteigen zu können und den Fernseher anzustellen. Für mich gab es deshalb nie einen Unterschied zwischen Unterhaltung und Kunst. Ich habe einfach gemerkt, wie wichtig es ist, an Erzählungen teilzuhaben. Es fördert die Kommunikation in der Familie und mit der Welt.

Lyssy: Mich hat die Magie der grossen Kinobilder sehr geprägt. Als Kind war ich im Fip-Fop-Club, eine geniale Marketing-Idee von Nestlé: Deren Leute kamen ein-, zweimal im Jahr mit mobilen Filmprojektoren in die Gemeinden und führten Filme vor. Und am Schluss haben die Kinder eine Tafel Schokolade erhalten. Was ich da gesehen habe, Disney-Filme, Charlie Chaplin, Laurel & Hardy, Harold Lloyd, das hat mich sehr beeindruckt. Kino, das waren für mich Bilder, die in die Knochen gefahren sind. Ich wollte deshalb auch Plakatmaler werden und Filmplakate gestalten, wie sie damals über den Eingängen der grossen Zürcher Kinos gehangen haben. Ich habe als Knabe alles vollgezeichnet, immer nur Gesichter, bei der Aufnahmeprüfung für die Kunstgewerbeschule wurde ich allerdings abgesägt. Der Lehrer hat sich meine Mappe angesehen und gesagt: «Ihnen sollte man links und rechts eins aufs Ohr geben.» Seither habe ich nicht mehr gezeichnet.

Volpe: Ich habe auch gezeichnet, aber eher soapige Sachen, Prinzessinnen und Feen, es ging um Liebe, Schmerz und Eifersucht. Und ich wurde auch nicht in die Kunstschule in Finnland aufgenommen ...

Lyssy: Bilden wir eine Schicksalsgemeinschaft!

Gab es einen Moment, als der Blitz eingeschlagen hat und Sie sagten: Ich werde Filmregisseur!?

Lyssy: Es gab ja damals keine Filmschule. Ausser im Ausland, aber das war zu teuer. Das Naheliegendste war eine Fotografenlehre. Die habe ich dann gemacht, das war mein Beruf und damit habe ich Geld verdient. Ich habe im Labor gearbeitet und zuerst mit René Groebli, später auch mit René Burri zusammengearbeitet und dabei immer geschaut, wo finde ich eine Möglichkeit, in die Filmszene zu wechseln?

Volpe: Ich wollte auch eine Fotografenlehre machen, nur wurde mir gesagt: Mädchen sind zu schwach, um die Fotolampen zu schleppen. Ich habe dann das Handelsdiplom gemacht, zu dieser Zeit ging ich in den Filmclub und habe die frühen Filme von Lars von Trier gesehen. In der F+F-Kunstschule in Zürich habe ich damit begonnen, Experimentalvideos zu drehen. Filmen, schneiden, vertonen, ich fand das grossartig. Als ich dann in New York Musikvideos für Dragqueens gedreht habe, wusste ich: Ich muss Filme machen. Erst mal habe ich ziemlich lange als Cutterin gearbeitet.

Lyssy: Du hast also gar nie Filme an einem 16- oder 35-mm-Schneidetisch geschnitten?

Volpe: Doch, ich habe Drehbuch und Dramaturgie an der Filmhochschule in Babelsberg studiert, dort habe ich einen 16-mm-Kurzfilm über meine Nonna gedreht und den Film von Hand geschnitten. Das war 1997, danach hat die Schule auf Digital umgestellt.

Lyssy: Ich war ja Schnittassistent beim ersten Dokumentarfilm von Alain Tanner, «Les apprentis» von 1964. Ich wurde gefragt, ob ich das machen wolle, und da ich es noch nie gemacht habe, habe ich natürlich Ja gesagt. Am Schneidetisch zu sitzen, hiess für mich learning by doing, da habe ich viel gelernt, und so kam es auch zu meinem ersten abendfüllenden Film «Ursula oder Das unwerte Leben». Aber am Computer schneiden, das kann ich nicht.

Volpe: Ich habe genau dann angefangen, als der analoge Film an sein Ende kam und alles digital wurde.

Lyssy: Es gibt vielleicht so etwas wie eine Gnade der frühen Geburt. Zu meiner Zeit war alles übersichtlicher, man gehörte zu diesem oder zu jenem Lager. Die Filmszene war aber auch klein und geschlossen, es war sehr schwierig hineinzukommen. Es war damals die grosse Zeit von Franz Schnyder und Kurt Früh. Bis es dann im Frühjahr 1961 doch geklappt hat: Als «Demokrat Läppli» gedreht wurde, habe ich als Kameraassistent dabei sein können.

Volpe: Heute ist es ja eher eine uneingeschworene Gemeinschaft, ein Alle-gegen-alle ohne grosse Koryphäen. Es gibt kaum grosse Schweizer Vorbilder, die die Jungen toll finden. Man schaut eher ins Ausland.

«Traumland» (2013)

Trailer zu Volpes Debüt.

Lyssy: «Ab einem bestimmten Alter ist jeder Tag ein Geschenk.»

Fotos: Sabina Bobst

Fotos: Sabina Bobst

Volpe: «Dieses Gefühl habe ich schon jetzt!»

Lyssy: «Schon jetzt? Wie hältst du denn das aus?»

Auch Sie, Herr Lyssy, haben sich kaum je am alten Schweizer Film orientiert.

Lyssy: Nein, für mich wars die Nouvelle Vague, das italienische Kino ...

Volpe: … der Neorealismo.

Lyssy: Richtig, der unvergessliche Neorealismo. Ich war aber auch ein Bewunderer des amerikanischen, des britischen Kinos. Speziell geprägt haben mich die Filme aus sozialistischen Staaten, aus Polen, Ungarn, Tschechien. Schwarzweisse, einfache, gute Geschichte, bei denen ich dachte: Das können wir doch auch! Mit dem alten Schweizerfilm konnte ich mich nicht identifizieren. Form und Inhalte waren mir bis auf wenige Ausnahmen, wie «Dällebach Kari» von Früh oder «Der 10. Mai» von Schnyder, zu eng, zu bieder.

Volpe: Lustig, ich habe ähnliche Vorbilder. Die Filmhochschule in Babelsberg ist die Schule aus dem ehemaligen Ostberlin. Wir hatten also viele Professoren aus der ehemaligen DDR und sahen Filme aus Polen, Tschechien, Russland. Dieses Kino prägt mich bis heute. Diese Filme sind nah an den Figuren dran, sie haben Poesie und gehen ins Unbewusste. Wie kommt man dahin? Dass man aus dem Kino kommt, und etwas in einem drin ist leicht verschoben?

Versöhnt man sich irgendwann mit dem, was man früher abgelehnt hat?

Lyssy: Ja, wenn man lang genug gelebt hat, ich habe mich mit Kurt Früh und Franz Schnyder versöhnt. Sie waren begabt und haben gemacht, was damals möglich war.

Volpe: Es ist ja auch umgekehrt so, dass man merkt: An meine Vorbilder werde ich vielleicht nie herankommen. Man arbeitet, gibt sich Mühe, liest und macht und merkt dann: Meine Filme werde ich nie so gut finden wie die meiner Vorbilder.

Lyssy: Ich hatte dieses Gefühl nicht, meine Filme haben das Publikum ja auch erreicht. Und meine Vorbilder habe ich mir ausgesucht: Vittorio de Sica, Francesco Rosi, Elio Petri, Elia Kazan – Favoriten, von denen ich jeden Film gesehen habe. Auch heute noch, ich verpasse keinen Film von Woody Allen. Ein Grossmeister der Ironie.

Wie verstehen Sie heute Ihren Beruf, Frau Volpe? Als moderne Form von Projektarbeit, bei der man mal dies, mal das macht, ein Drehbuch für andere schreibt und dann wieder einen Film dreht?

Volpe: Nicht unbedingt. Die Frage, wo ich hingehöre, war für mich gar nie so wichtig. Mir gefällt der Gedanke, dass die Dinge im Fluss sind. Es ist befreiend. Ich habe mich gegen starre Vorstellungen auflehnen müssen, was man einem Italienermädchen zutrauen kann. Heute schreibe ich nur für andere, wenn mich etwas reizt. Bei «Heidi» hatte ich grosse Freiheiten, aber es war auch klar, dass ich nicht Regie führen kann. Niemand gibt der Regisseurin eines Arthouse-Films zwölf Millionen Franken. Ich war nicht «bankable», wie man sagt. Aber ich hätte das auch nicht gewollt, all die Ziegen und Kinder ... Ich arbeite lieber mit Erwachsenen.

Lyssy: Ich auch!

Volpe: Die Stoffe, die ganz von mir kommen, sind sehr persönlich, die will ich auch selber umsetzen. Manchmal fürchte ich sogar, dass ich sterbe, bevor ich den Film drehen kann. Am liebsten hätte ich dann eine Vertragsklausel, in der steht, wer in diesem Fall Regie führt.

Lyssy: Das muss ich vermutlich auch noch machen, fällt mir gerade ein. Ab einem bestimmten Alter ist jeder Tag ein Geschenk.

Volpe: Dieses Gefühl habe ich schon jetzt!

Lyssy: Schon jetzt? Wie hältst du denn das aus?

Volpe: Nun, mitten im Leben ist man umgeben vom Tod.

Lyssy: Stimmt. In meinem neuen Drehbuch steht zuvorderst ein Zitat von Woody Allen: «Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert.»

Nun haben wir noch gar nicht über Ihre neue Komödie geredet, Herr Lyssy.

Lyssy: Sie heisst «Die letzte Pointe», der Dreh soll im Herbst beginnen. Es geht um eine 89-jährige Frau, die sich davor fürchtet, dement zu werden. Es soll eine Komödie zu einem ernsten Thema werden.

«Heidi» (2015)

Trailer zur Neuverfilmung nach Volpe.

«Die letzte Pointe»: Ihr letzter Film?

Lyssy: Sicher nicht! Ich mache so lange Filme, bis ich hinter der Kamera tot umfalle.

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