Unterwegs mit den Müllmännern

Auf den Spuren der Farb-Trennsäcke

Gegen 140 Tonnen Müll sammeln die Stadtberner Kehrichtprofis pro Tag, einen Bruchteil davon versuchsweise in farbigen Säcken. Der «Bund»-Testsammler hat als Müllmann und am Fliessband beim Trennen der Wertstoffe mit angepackt.


von Christoph Aebischer (Text), Beat Mathys (Bilder), Martin Erdmann (Video) und Christian Zellweger (Umsetzung)

Müllmänner müssen früh raus. Das gilt auch für mich. Denn ich will wissen, was mit meinen farbigen Abfallsäcken im schwarzen Container vor dem Haus geschieht. So melde ich mich um halb sieben Uhr bei der Energiezentrale Forsthaus in Bern zum Dienst. Magaziner Lorenzo – hier sind alle per Du – kleidet mich ein: Überhosen, eine warme Jacke mit Signalfarben, Pullover, Handschuhe und Mütze. Meine eigenen Klamotten landen im Spind Nummer 94.


So war Christoph Aebischers Tag als Müllmann. (Video: Martin Erdmann/Christoph Aebischer)

Bevor ich mit dem Fahrzeug Nummer 66 ausrücke, erhalte ich von Einsatzleiter Bruno Instruktionen. Ein Faltblatt erläutert in zehn Punkten, auf was man als «Profi am Heck» achten muss.

Der «Bund»-Test-Abfallsammler

Seit September können die ersten Haushalte in der Stadt Bern ihre Abfälle zu Hause trennen. Im Pilotversuch Farbsack-Trennsystem wird ein neues Entsorgungsmodell getestet, bei dem die Bevölkerung ihre Abfälle rund um die Uhr in hauseigenen Containern entsorgen kann. Rund 2500 Testhaushalte wurden dazu ausgewählt, unter anderem unser Autor, «Bund»-Redaktor Christoph Aebischer, der in unregelmässigen Abständen von seinen neuen Erfahrungen als «Wertstoffe»-Sammler berichtet. Das ist der vierte Beitrag. Die Übersicht über die Serie finden Sie unter farbsack.derbund.ch

Zugegeben, Profi ist ein grosses Wort für einen Neuling wie mich. Profis sind meine Begleiter, der Belader Franco und mein Chauffeur Carlo. Mit ihnen gehts um sieben Uhr los. Die grossen Tore öffnen sich, und zusammen mit acht weiteren Fahrzeugen und ungefähr 50 Leuten startet die alltägliche Mission «Die Stadt Bern entsorgt musterhaft». Dieser Slogan prangt an der Seitenwand des knapp 15 Tonnen schweren und 10 Meter langen Dreiachsers, den Carlo steuert.

Sein Programm unterscheidet sich von jenem der anderen acht Chauffeure. Routiniert und präzis dirigiert er den Lastwagen durch enge Quartierstrassen und an schlecht parkierten Autos vorbei zu den Containern des Farbsack-Trennsystem-Pilotversuchs. Noch sind sie lose über das ganze Stadtgebiet verteilt. Schliesslich sollen die 2500 ausgewählten Haushalte, wovon allerdings weniger als die Hälfte mitmacht, ein repräsentatives Bild abgeben. Franco kennt den Weg. Er ist von Anfang an mit dabei.

Bis Holligen fahren wir im Führerstand. Dann wechseln Franco und ich ans Fahrzeugheck, und nun gilts ernst: die Container an die hydraulische Hebevorrichtung schieben und zügig wegtreten – Verhaltenstipp unter Punkt 6 im Faltprospekt. Wer zögert, riskiert einen zünftigen Kinnhaken. Praktischerweise befinden sich sämtliche Säcke in fahrbaren Behältern. Ein paar Hundert Kilogramm kommen auf unserer zweistündigen Tour zusammen.

Voll ist der Kehrichtwagen mit etwas mehr als zwei Tonnen farbigen Säcken. Auf der konventionellen Gebührensacktour passen neun Tonnen hinein. Denn die blauen Müllsäcke dürfen gepresst werden im Unterschied zu den farbigen, die separat Glas, Papier, Büchsen, PET-Flaschen und Plastik enthalten. Den blauen Säcken wende ich mich auf meiner nächsten Tour durch das Marzili und die Matte zu. Dieses Mal mit Chauffeur Carlo und Belader Mario.

Mario greift mit den Fingern in die Schlaufen der Säcke und wirft manchmal ein halbes Dutzend davon in einem Schwung in die Sammelmulde. Unter die Arme klemmen ist verboten. Punkt 7 im Faltprospekt. Mario weiss, warum. Auch er hat sich in seinen sieben Jahren als Belader schon an spitzen Gegenständen verletzt. Hie und da haben Tiere oder Vandalen Säcke zerfetzt und deren Inhalt über die ganze Strasse verteilt. Mario greift anstandslos zum Besen und bleibt die Ruhe selbst. Punkt 10 des Faltprospekts.

Innert zweier Stunden sammeln wir viereinhalb Tonnen Müll. Die schwersten Säcke sind nicht unbedingt die grossen, sondern jene mit Katzenstreu und Babywindeln drin. Rund die Hälfte des Gewichts haben wir von Hand geschleppt, den Rest in Containern zum Fahrzeug geschoben. Bereits in meiner Kurzschicht warf ich also rund eine Tonne Ghüdersäcke in den Kehrichtwagen. Belader müssen fit sein wie Sportler. Punkt 3 im Faltprospekt.

Dieser Müll – täglich bis zu 140 Tonnen – landet im Bunker der Kehrichtverbrennungsanlage. Die farbigen Säcke hingegen transportieren Carlo und Franco zur Alpabern AG im Wankdorf. Jetzt wirds richtig spannend. Entgeistert sehe ich das wilde Durcheinander angerissener oder gar geplatzter bunter Säcke aus dem Wagen in die Lagerhalle kullern. Dazwischen klimpern Scherben, flattert Papier.

Ein Trax bugsiert die Wertstoffe – denn zu dem soll dieser Abfall ja werden – auf ein Förderband. Langsam wandert der bunte Mix auf eine Plattform, wo sich zwei junge Leute mit Schutzbrillen und schnittsicheren Handschuhen darüber hermachen. Sie separieren stoisch das bei mir zu Hause schon einmal sortierte Papier, Blech, Glas, die PET-Flaschen und Kunststoff-Hohlkörper und werfen die Ware in entsprechend bezeichnete Löcher. In den darunter postierten Containern wird der Sinn der Übung endlich sichtbar: Dem Wirrwarr entrissene wieder verwertbare Materialien.

Ich sortiere mit, bis ich aus den Augenwinkeln sehe, wie das Förderband Glasscherben, Plastikverpackungen und Kunststofffolien hinten hinaus in einen grossen Sammelcontainer befördert. Skeptisch wie ich bin, frage ich, was damit geschieht. Verblüfft erfahre ich, dass nichts davon recycelt wird. Es geht schnurstracks zurück in die Kehrichtverbrennungsanlage.

Das Plastik landet also weiterhin im Feuer! Bei den Griechen stand dafür der sich vergeblich abrackernde Held Sisyphus. Immerhin wird alles andere tatsächlich einem Recycling zugeführt. Und nach meinem Einsatz als Amateur am Heck gestehe ich dem Berner Farbsack-Trennsystem noch einen weiteren Pluspunkt zu: die Container. Das Tragen loser Säcke entfällt. Das ist gut für die Gesundheit der Müllmänner.

Die Übersicht über die Erfahrungen von «Bund»-Test-Abfallsammler Christoph Aebischer: Der Entsorgungshof kommt nach Hause

Wie handhaben Sie es mit dem Müll in Ihrem Haushalt? Diskutieren Sie mit im «Stadtgespräch»: «Wie trennen Sie Ihren Müll?»


«Das Farbsack-System hat grosses Potenzial»

Christian Jordi, der Leiter von Entsorgung und Recycling Bern, nimmt Stellung.

Herr Jordi, das in Farbsäcken separat gesammelte Plastik landet zu einem grossen Teil dennoch in der Kehrichtverbrennung, sah ich bei meinem Einsatz an der Front. Ich war baff!

Momentan läuft ein Pilotversuch, bei dem wir Erfahrungen sammeln. Beim Kunststoff schauen wir, was anfällt und was sich wirtschaftlich recyceln lässt. Die Analysen dazu macht ein Team um Professor Rainer Bunge von der Hochschule für Technik in Rapperswil.

Als Testsammler gehe ich aber davon aus, dass alle Wertstoffe aus den Säcken wieder verwertet werden.

Wir sind wie gesagt in einer Testphase. Würde ein solches System definitiv eingeführt, müssten andere Regeln gelten. Grundsätzlich gilt: Was Sie separat sammeln, soll als Wertstoff behandelt werden. Weil das Recycling von Kunststoff aufwendig und teuer ist, viele aber Plastik sammeln wollen, prüfen wir nun, ob unsere Kunden bereit sind, etwas dafür zu bezahlen: Während alle anderen farbigen Säcke gratis sind, kosten jene für den Kunststoff analog zu den blauen für den Hauskehricht etwas.

Plastik-Recycling ist zu teuer und bringt ökologisch zu wenig, um es mit Steuergeldern zu finanzieren?

Eine Kunststoffsammlung müsste sicher über Verursachergebühren finanziert werden. Schweizweit wird kontrovers diskutiert, ob und welche Kunststoffe überhaupt separat gesammelt und wiederverwertet werden sollen. Denn die Vielfalt von Kunststoffen und dass sie oft kombiniert vorkommen, macht die Sortierung aufwendig. Zudem lassen sich gar nicht alle Sorten recyceln.

Viele farbige Säcke werden beim Transport beschädigt. Wie soll ein solches System funktionieren, wenn dereinst täglich Dutzende von Tonnen verarbeitet werden sollen?

Gegenüber dem Anfang haben wir schon beträchtliche Fortschritte erzielt. Wir testen verschiedene Sammelmethoden, um das System weiter zu optimieren.

Momentan wird alles in Handarbeit getrennt.

Selbstverständlich bliebe es nicht dabei. Dafür gibt es automatische Anlagen. Bei einer definitiven Einführung des Systems würde die Sortierung öffentlich ausgeschrieben.

Gegenüber der normalen Tour kann ein Kehrichtwagen nur ein Viertel laden. Wie viele Leute und Fahrzeuge müssten Sie zusätzlich haben?

Wir gehen davon aus, dass wir nicht wesentlich mehr Leute oder Lastwagen brauchen. Denn beim heutigen System mit den Quartiersammelstellen, das durch die Farbsäcke abgelöst würde, können die Wertstoffe ebenfalls nicht gepresst werden.

Das geht auf, wenn von Haus zu Haus gefahren werden muss?

Das Geniale an den Farbsäcken ist, dass wir alle Wertstoffe auf einmal abholen können. Heute fallen je zwei Fahrten bei den Sammelstellen an und dazu je eine für den Hauskehricht, das Papier und das Grüngut. Diese könnten wir auf drei Touren von Haus zu Haus reduzieren. Die bestehenden Quartiersammelstellen würden neu für Farb- und Kehrichtsäcke genutzt.

Sie rechnen also nicht mit einer
Erhöhung der Gebühren?


Wir wollen das Farbsack-Trennsystem kostenneutral einführen. Der Betrieb soll also nicht teurer werden. Die Umstellung hingegen würde etwas kosten.

Die Farbsäcke werden im Unterschied zu den blauen Säcken ausschliesslich in Containern entsorgt. Das erleichtert die Arbeit der Müllmänner. Warum führt man die Containerpflicht nicht ohne Farbsäcke ein?

Die Containerpflicht müsste ebenfalls politisch ausgehandelt werden.

Aber mit dem Farbsacksystem käme die Containerpflicht quasi als Beigabe?

Ohne Container kann ich mir das getestete System tatsächlich nicht vorstellen.

Sie sehen offensichtlich Vorteile im getesteten System. Welche?

Das Farbsack-System hat grosses Potenzial. Unsere Kundinnen und Kunden können sämtliche Wertstoffe direkt vor dem Haus entsorgen. Die Autofahrten beziehungsweise das Schleppen zur Sammelstelle entfällt. Zudem werden die Wertstoffe bereits dort getrennt, wo die Abfälle anfallen. Und wir können sie mit einer einzigen Fahrt abholen, ohne dass unsere Mitarbeitenden tonnenweise Säcke heben müssen. Schliesslich stossen wir mit den Quartiersammelstellen zunehmend an Grenzen. Wir müssten drei- bis viermal mehr haben. Dazu fehlt schlicht der Platz. Deshalb sind die bestehenden überlastet, was zu Emissionen und Unmut unter Anwohnenden führt.

Im Klartext: Es gibt Reklamationen wegen der Sauerei und des Lärms?

Genau. Weiter lässt die Qualität der Sammlungen oft zu wünschen übrig, weil nicht korrekt entsorgt wird. Wir betreiben einen immensen Aufwand, um die Anlagen sauber zu halten.

Wie gehts nach der Pilotphase weiter?

Wir werten sie in einem Bericht aus, den wir der Stadtberner Regierung abliefern werden. Nachdem sie sich damit befasst hat, wird der Stadtrat an der Reihe sein. Läuft alles nach Plan, könnte 2021 das Stimmvolk entscheiden, ob das System eingeführt wird.

Wie stellen Sie sicher, dass nicht nur Rückmeldungen von Fans in Ihre Auswertung einfliessen?

Offiziell machen 1150 von 2500 ausgewählten Haushalten mit. Uns interessiert natürlich auch die Meinung der anderen. Darum werden wir alle anschreiben und um ihr Urteil bitten. Wir sind interessiert an möglichst vielen Rückmeldungen, damit diese auch repräsentativ sind. Allerdings glaube ich nicht, dass nur Fans mit von der Partie sind. Bei grossen Mehrfamilienhäusern, wo sich die Verwaltung zur Teilnahme entschieden hat, trifft dies sicher nicht zu.

Apropos: Was geschieht mit den schwarzen Containern?

Die bleiben, wo sie sind. Wer mitgemacht hat, darf also zumindest bis zum definitiven Entscheid auf politischer Ebene seine Abfälle und Wertstoffe weiterhin in farbigen Säcken entsorgen.

Interview: Christoph Aebischer


Christian Jordi, Leiter Entsorgung und Recycling Bern

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