Viele Eigentümer kennt niemand persönlich

Über Lösungen zur Belebung der Berner Altstadt wird regelmässig gestritten. Doch wem gehört das historische Zentrum der Bundesstadt und Unesco-Weltkulturerbe eigentlich?

Eine Auswertung von Daten zu den Besitzverhältnissen zeigt: Das Eigentum ist verblüffend breit verteilt. Das hat Vor- und Nachteile.

Macht die Berner Altstadt Schlagzeilen, klingen diese oft ähnlich: «Die Berner Altstadt darf nicht zu Venedig werden» etwa. Oder von «Stadt Bern will Wohnungen in Altstadt schützen» bis zu «Banken sollen aus Altstadt weichen». Anwohner und Leiste äussern ihre Angst davor, dass gerade in der unteren Altstadt das Leben aus den Gassen zu verschwinden droht. Beklagt werden Finanzdienstleister in ehemaligen Ladenlokalen, neue Business-Appartements, Zweitwohnungen oder die Zunahme von Airbnb-Angeboten, aber auch das Verschwinden von kleineren Lebensmittelläden und Inhaber-geführten Betrieben. Diese Themen sind auch auf politischer Ebene aktuell: Vorstösse im Berner Stadtrat wollten etwa Finanzdienstleister in der unteren Altstadt verbieten, eine Regelung zu Airbnb ist ein Thema.


Mit den Menu-Buttons können Sie die einzelnen Kategorien ein- oder ausblenden. So sehen Sie auch, wenn sich einzelne Flächen überlagern. Dies kommt daher, dass gewisse Liegenschaftseigentümer (LIG) die Parzelle im Baurecht (SDR) abgegeben haben.
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Der «Bund» leuchtet in den nächsten Wochen die Interessenkonflikte in der Altstadt aus, lässt Betroffene zu Wort kommen und diskutiert Lösungen, wie die verschiedenen Anliegen miteinander versöhnt werden könnten. Dazu ist es wichtig, zunächst einmal zu klären, wem die Altstadt überhaupt gehört. Um die Besitzverhältnisse sichtbar zu machen, haben wir die Grundbuchdaten auf einer Karte der Stadt Bern visualisiert (zur Methode und ihren Einschränkungen siehe Kasten). Das Resultat: eine Ansicht der Altstadt, die ein farbiges Flickenmuster zeigt. Grosseigentümer gibt es in der Berner Altstadt nicht. Keiner der privaten Besitzer oder institutionellen Anleger verbucht Anteile an mehr als zehn unterschiedlichen Parzellen. Viele Grundstücke haben mehr als einen Eigentümer. Oft zu beobachten ist dies gerade bei den Liegenschaften in der unteren Altstadt, wo sich etwa Eigentümergemeinschaften die Parzellen teilen.

Die Geschichte zeigt sich

Augenfällig ist der Unterschied bei den Anteilen der institutionellen Anleger wie Pensionskassen oder Immobilienfirmen zwischen der oberen und der unteren Stadt. So befinden sich in der Unteren Altstadt nur sehr wenige Gebäude in den Händen von Investoren. In der oberen Altstadt hat diese Besitz-Kategorie einen grösseren Anteil. Die Verteilung lässt sich einerseits aus der Entstehung der Stadt erklären (siehe Zweittext «Die Spuren der Altstadt-Entwicklung»). Die obere Stadt ist ein traditionelles Gewerbegebiet, während im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, der unteren Stadt, vorwiegend gewohnt wurde. Die Bedingungen in der oberen Stadt sind für institutionelle Anleger attraktiver. Die Flächen der Liegenschaften sind grösser, die Vorgaben zur Nutzung offener als in der unteren Altstadt. Hinter den Sandsteinfassaden der oberen Altstadt verbergen sich Einkaufszentren über mehrere Stockwerke und Liegenschaften mit modernstem Ausbaustandard. Hier lässt sich Geld verdienen, was in den mit vielen Auflagen belegten Häusern in der unteren Altstadt schwieriger ist.

Chance – aber auch Risiko

Was bedeutet diese Kleinteiligkeit für die Altstadt? Die Struktur der unteren Altstadt sei einerseits eine grosse Chance, sagt Jeantine Viebrock, «sie ergibt eine einmalige Lebensqualität, einen Dörflicharakter». Viebrock hat 2015 ihr Geografiestudium an der Universität Bern mit einer Masterarbeit über den Strukturwandel in der Kramgasse abgeschlossen. Andererseits sei die Kleinteiligkeit dann ein Problem, wenn man die Entwicklung der Altstadt in eine Richtung steuern wolle. Dazu müssten viele Akteure zusammenarbeiten. Diese an einen Tisch zu bringen, sei aber nicht einfach.

Eine Erfahrung, die auch Edi Franz macht. Er ist Präsident des Rathausgasse-Brunngasse-Leistes und mit dem Einrichtungsgeschäft Intraform selber Unternehmer in der Altstadt. Natürlich gebe es noch Liegenschaftsbesitzer, die wie er in der Altstadt geschäfteten und die Liegenschaft auch gleich selbst bewohnten. Doch: «Viele der Eigentümer kennt man nicht mehr persönlich.» Oft seien dies Personen, welche eine Altstadtliegenschaft geerbt hätten, selber aber keinen Bezug zur Stadt hätten, so Franz. Erbgemeinschaften wünschen sich möglichst einfache Lösung und überlassen die Bewirtschaftung einer Liegenschaftsverwaltung.

Für Viebrock ist klar: Es geht nur gemeinsam. «Ladenbesitzer und Anwohner müssen zusammen innovative Konzepte umsetzen.» Eine Möglichkeit wären Instrumente wie verbindliche Abmachungen unter den Eigentümern, welche Vermietungspolitik sie pflegen wollen. Auch wenn es erste Bemühungen mit Diskussionen und Podien gegeben hat: Von einem verstärkten Dialog in der Altstadt ist offenbar noch wenig zu spüren. Es gebe einzelne Ladenbesitzer, etwa in der Brunngasse, welche einen Austausch pflegten. «Doch im Grossen und Ganzen hat sich hier bis jetzt wenig getan», sagt Franz.

«Man sorgt sich um den Dorfcharakter»

Von Samuel Bernet

Herr Schneller, wem gehört die Altstadt?
Niemandem und allen (lacht). Ein grosser Teil der Altstadt ist öffentlicher Raum, der gehört allen. Aber natürlich sind viele Häuser in der Altstadt in Privatbesitz.

In der unteren Altstadt besitzen viele Privatpersonen einzelne Häuser. Macht diese Kleinteilung der Besitzerschaft eine gesunde Entwicklung in der Altstadt schwierig?
Nein, das garantiert eine gewisse Vielfalt.

Viele scheinen vor allem an Rendite interessiert.
Das ist nur ein Teil der Eigentümer. Wir versuchen diese zu überzeugen, nicht nur auf die Rendite zu schauen. Aber schlussendlich ist dies ihr gutes Recht. Es gibt aber viele, die sich um den Dorfcharakter in der unteren Altstadt sorgen und sich für kulturelle Veranstaltungen, gemütliche Bars und Lebensmittelgeschäfte einsetzen.

Gibt es noch viele Lebensmittelgeschäfte in der unteren Altstadt?
Leider nein. Es gibt in der unteren Altstadt einen Strukturwandel, zurzeit gibt es etwa keine klassischen Comestibles-Läden mehr. Viele Bäckereien und Metzgereien sind in den letzten Jahren verschwunden. Andererseits sind vermehrt grössere internationale Brands wie Lacoste, Bally, Marc Cain oder Aesop in die untere Altstadt gezogen.

Wie wollen die Altstadtleiste diesen Trend verhindern?
Wir wollen diese Entwicklung nicht gänzlich verhindern. Was wir aber nicht wollen, ist eine Altstadt, die nicht mehr lebendig und nur noch für Touristen attraktiv ist, wie wir das teilweise in Burgdorf und Luzern, aber auch in der oberen Berner Altstadt haben.

Wie wollen die Leiste das schaffen?
Wenn wir die Entwicklungen frühzeitig erkennen, können wir diese zu beeinflussen versuchen, indem wir mit allen Beteiligten das Gespräch suchen.

Haben Sie ein Beispiel?
Derzeit organisiert die Verkehrsdirektion Workshops, um den Zubringerdienst in der Altstadt zu vereinheitlichen. Für die untere Altstadt würde das bedeuten, dass der Zubringerdienst von 24 auf wenige Stunden täglich beschränkt würde. Dagegen wehren wir uns, weil zum Beispiel Handwerkereinsätze und Heimlieferdienste stark eingeschränkt würden, was die Wohn- und Arbeitsqualität vermindern würde.

Was wünschen Sie sich von der Politik?
Dass sie mehr sachpolitisch und weniger parteipolitisch agiert. Ein aktuelles Beispiel sind die Sonntags-Öffnungszeiten in der unteren Altstadt, die im Grossrat gefordert wurden und uns viel Aufwand und Ärger bescherten, nur damit am Ende festgestellt werden musste, dass die geforderte Änderung in dieser Form eigentlich keinen Sinn macht.



Nicola Schneller, Vizepräsident Vereinigte Altstadtleiste. (Bild: zvg)

Der Zytglogge trennt Arbeitende von Wohnenden

Über ein Fünftel der in Bern Beschäftigten arbeitet in der oberen Altstadt. In der unteren wird vor allem gewohnt.

Samuel Bernet, Christian Zellweger

Wer weiss, wem die Gebäude in der Altstadt gehören, weiss noch nicht, wie die Liegenschaften genutzt werden. Die Statistik sagt: vor allem zum Arbeiten. Viele Arbeitgeber drängen in den zentralen und vergleichsweise kleinen Raum: Mit einer Fläche von 84 Hektaren ist die Altstadt der kleinste der sechs Berner Stadtteile und macht weniger als zwei Prozent der Stadtfläche aus.

Trotz der Kleinräumigkeit gibt es von Hirschengraben bis Nydeggbrücke 3369 Arbeitsstätten – mehr als in jedem anderen Stadtteil. Auf diese Arbeitsstätten verteilen sich 40 000 Beschäftigte, was über einem Fünftel der gut 184 500 Beschäftigten in der Stadt Bern entspricht. Fast alle Arbeitsplätze sind im Dienstleistungssektor angesiedelt, was nicht erstaunt angesichts der vielen Läden und Geschäfte entlang der Hauptgassen einerseits und dem Bundeshaus mit den Verwaltungsstellen und den dadurch angezogenen Beratungs- und Rechtsbüros andererseits. Allerdings gibt es strukturelle Unterschiede zwischen der oberen und der unteren Altstadt: 80 Prozent aller Arbeitnehmer in der Altstadt arbeiten oberhalb des Zytglogge, wo sich auch zwei Drittel der Arbeitsstätten befinden.

Bevölkerungsschwache Altstadt

Doch in den engen Gassen wird nicht nur gearbeitet, sondern auch gewohnt. Wobei: Die grossen Wohnsiedlungen befinden sich in anderen Stadtteilen. Lediglich 4600 Menschen wohnen gegenwärtig in der Altstadt. Der Anteil an den 140 000 Einwohnern der Stadt Bern beträgt mickrige drei Prozent. Damit ist die Altstadt in absoluten Zahlen der bevölkerungsschwächste Stadtteil Berns. Von diesen drei Prozent sind wiederum drei Viertel in der unteren Altstadt zu Hause.
Ist die Altstadt beim Anteil der Wohnbevölkerung an letzter Stelle, so ist sie ganz vorne dabei, wenn es um die Mietpreise der Wohnungen geht. Die Bestandsmiete für eine Dreizimmerwohnung beträgt in der Altstadt im Schnitt rund 40 Prozent mehr als für eine durchschnittliche Dreizimmerwohnung in der Stadt Bern.

Wird auch in Zukunft oberhalb des Zytglogge gearbeitet werden und unterhalb gewohnt? Der Vizepräsident der Vereinigten Altstadtleiste, Nicola Schneller, beschreibt im Interview einen Strukturwandel, durch den das Wohnen in der unteren Altstadt für heimische Berner weniger attraktiv werden könnte. Dies einerseits wegen der ansteigenden Mieten, andererseits aber auch durch die Verdrängung von Lebensmittelläden durch internationale Geschäftshäuser.

Michael Friedli, Leiter Liegenschaftenbewirtschaftung bei der Immobilienverwaltung von Graffenried, geht von einem anderen Szenario aus. «Es wird in Zukunft auch in der unteren Altstadt wieder mehr Läden des täglichen Bedarfes geben», so Friedli. Dies, weil Firmen ihre Büros vermehrt an den Stadtrand zügelten und das Gesetz die Umwandlung von Büro- zu Wohnraum fördere. Dadurch könnten wieder mehr Menschen in der oberen Altstadt wohnen, was Auswirkungen auf den Laden-Mix in der ganzen Altstadt haben werde, glaubt Friedli.Die Nutzung der Altstadt

Fokus Altstadt
Entwickelt sich Berns Altstadt zum Schlechten? Was lässt sich gegen die viel beklagte Verödung tun? Welche Interessen prallen zwischen den Standsteinmauern aufeinander? In einer Artikelserie schaut der «Bund» genauer hin. Wie haben sich Gewerbe und geschäftliche Nutzung entlang der Hauptgassen entwickelt? Welche Rolle spielen die Bernburger? Auch die alten Zeiten, in denen in Lokalen wie dem Commerce Bundesräte und Schriftsteller am Mittag üppig assen und Zigarren rauchten, lassen wir aufleben – und wagen ebenso einen Blick in die Zukunft der Altstadt. (zec)

Die Spuren der Altstadt-Entwicklung

An den Besitzverhältnissen der Stadt lässt sich deren Entwicklungsgeschichte ablesen.

Blickt der ehemalige Stadtarchivar Emil Erne auf die nach Besitzverhältnissen eingefärbte Karte, wird für ihn schnell klar: Die Verteilung der Eigentümer widerspiegelt auch heute noch die Entwicklungsgeschichte der Berner Altstadt seit 1191, das Wachstum von Ost nach West im Aarebogen. Typisch seien die öffentlichen Gebäude, die an den Rand der Stadt gebaut wurden, begonnen mit dem Münster und dem Rathaus. Auch andere Gebäude folgen dieser Randlage, etwa das ehemalige Waisenhaus, in dem heute die Polizei einquartiert ist, die Gebäude des Bundeshauses oder die Französische Kirche an der Predigergasse.
«Es werden die Aarehänge betont und geschützt», sagt Erne. Am Rand der Stadt war Platz für grosse Gebäude – oder es liess sich Platz schaffen. Denn in der Mitte der Stadt lag das gesellschaftliche und geschäftliche Zentrum. Noch bis ins 19. Jahrhundert war der Bereich Kreuzgasse/Kramgasse/Gerechtigkeitsgasse die exklusivste Wohnlage. Gelegen an den Gassen, in denen Handel betrieben wurde, nahe an Rathaus und Kirche, befand man sich hier inmitten des städtischen Treibens. So lebten die reichen Berner an der Marktgasse und die Reichsten der Reichen an der Junkerngasse, nahe der St.-Vinzenz-Kirche – auf deren Gelände später das Münster zu stehen kam. Die sehr kleinteilige untere Altstadt ist denn auch heute noch vorwiegend in Privatbesitz und hauptsächlich Wohngebiet.

Auch die Situation in der oberen Stadt ist stark der Entwicklung der Stadt geschuldet. Dieser jüngere Stadtteil war immer ein traditionelles Gewerbegebiet. Die hohen Grundstückspreise in diesem Perimeter gehen auf das 19. Jahrhundert zurück. Bereits 1850 waren die Bodenpreise an der Spitalgasse höher als an der Kram- und der Marktgasse. Das habe einen einfachen Grund, sagt Erne: «Die Stadt erwartete den Bau des Bahnhofes.» 1860 war dieser fertiggestellt, und kaum 400 Meter entfernt war 1857 der erste Teil des Bundeshauses errichtet worden. So gewann das Gebiet massiv an Attraktivität. Stadtstruktur

Von Christian Zellweger


Emil Erne (Bild: Manu Friederich/Archiv)

Text: Christian Zellweger und Samuel Bernet
Interaktiv: Christian Zellweger

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