Ein Tal kämpft ums Überleben

Die Randregionen fürchten um ihre Existenz. Das zeigt die Debatte um die Spitalstandortinitiative einmal mehr. Auch das Diemtigtal fordert mehr staatliche Hilfe.

Der ungewissen Zukunft begegnet man aber auch mit Innovationen.

Draussen ist es stockfinster und eisig kalt. Drinnen im Gasthof Tiermatti sitzen drei ältere Jäger bei Bier und Wein. Schwelgen in den Zeiten, als man mit dem Abschuss eines Fuchses mehr Geld verdiente, als wenn man ein Schwein aus dem Stall schlachtete. Prahlen mit «riesigen Gemsböcken», die oben am Grat erlegt wurden. Das Flachland ist hier im hinteren Diemtigtal gerade sehr weit weg. Auch das letzte Postauto talabwärts ist längst gefahren – wie jeden Tag kurz vor sechs Uhr abends. Stören tut das am kleinen Stammtisch niemanden. Alle sind mit dem Auto hier. Zudem ist die Stadt hier kein Sehnsuchtsort – und doch ist man von ihr abhängig.

«Der Kanton schaut zu wenig gut zu den Randregionen», sagt der Diemtigtaler Gemeindepräsident Hans von Allmen tags darauf. Inwiefern denn? Als Antwort zählt von Allmen die Konsequenz auf: Bäckereien, Metzger, Spitäler – allesamt geschlossen. Der pensionierte Posthalter sagt, er unterstütze deshalb die Spitalstandortinitiative. Über diese wird am kommenden Sonntag abgestimmt. Sie fordert den Erhalt aller Spitäler – von jenem von Zweisimmen im Speziellen. Für das Spital, das die Diemtigtaler «das unsere» nennen, käme die Initiative aber zu spät: Denn das Spital im Nachbardorf Erlenbach schloss bereits 2012. Heute fahren die Diemtigtaler nach Frutigen oder nach Thun ins Spital.

Gekäst wird in der ehemaligen Armeedusche.

Einst waren in der Bio-Käserei auch Strafgefangene untergebracht.

«Kein Problem» sei das, findet Ueli Zaugg. Weiter hinten als der Bio-Käser lebt im lang gezogenen Diemtigtal niemand. Zaugg erinnert sich an den älteren Besucher, der auf dem feuchten Käsereiboden ausrutschte und sich den Kopf am Käsekessel stiess. Die Ambulanz sei schon nach zwanzig Minuten da gewesen. Gefühlt habe es zwar «eine Ewigkeit gedauert», aber das sei in solchen Momenten immer so. Und schliesslich lebe man in den Bergen. Alles haben könne man nicht. Der knorrig-charismatische Zaugg lacht. Ihm gefällt es hier. Das «A», das zum lang gezogenen «Ooo» wird, verrät hinter dem Diemtigtaler Duktus den Seeländer. Vor elf Jahren zog es den Bauernsohn, der in der Stadt Basel ein Käsegeschäft führte, hier an den Fuss von Rauflihorn und Männliflue.

Sieben Bauern hatten damals im Kampf gegen sinkende Verkaufspreise eine Käserei-Genossenschaft gegründet. Suchten einen Käser. Ein geeignetes Haus war bereits gekauft. Im 19. Jahrhundert lagerte die Stadt Thun in diesem ihren Käse, später brachte die Strafanstalt Witz­wil ihre Gefangenen darin unter. Dann zog das Militär ein – später wieder aus. Wo bis in die 90er-Jahre Soldaten duschten, werden nun frische Geisskäse salzgebadet. Vor kurzem wurde er an der St. Galler Olma zum besten Schweizer Käse seiner Art gekürt. Er wird von einem Grossverteiler unter dem Label Naturpark Diemtigtal verkauft. Zaugg erachtet den 2012 eröffneten und vom Bund subventionierten Naturpark als Erfolg. Doch es gibt auch kritische Stimmen. So von Bauern, die sich an gewissen zusätzlichen Vorschriften stören. Diese besagen etwa, dass sie den Hof aufräumen müssen.

Hinten in der Käserei reifen Laiber aus Kuhmilch. Zu kalt ist es dafür im Winter, zu warm im Sommer. Doch Zaugg sieht es pragmatisch. «Wenn man innovativ ist, findet man für alles eine Lösung.» Er spricht dabei vom Käsen und der Käserei, vor allem aber vom Tal, das um seine Zukunft kämpft.

Hat es im Dezember keinen Schnee, bleiben die Gäste aus.

Und je weniger Schnee, desto weniger Arbeitsstunden am Skilift.

Die Spur führt durch den Schnee den Berg hoch. Nun steht der Motorschlitten unter dem Skiliftmast, oben schmieren zwei Männer die Seilrollen. «Der Schnee kam zu früh», sagt der eine beim Herunterklettern. «Bald ist er geschmolzen», so der andere. Gesichert sind sie nur teilweise. Der weite Weg ins Spital? Für Schwangere ein Problem, meint der eine – in den Bergen sei das halt so, der andere. Lieber sprechen sie über anderes: Im Dezember müsse es weiss sein. Andernfalls bleiben im tief gelegenen Tal die Touristen aus. So war es im letzten Jahr. Der kleine Skilift auf dem Springeboden lief nur selten. Die benachbarten Wiriehornbahnen kämpfen derzeit gegen den Konkurs. Die steigende Schneegrenze sorgt im Diemtigtal für immer grünere Winter. Von Klimawandel redet im Tal trotzdem niemand. Für die beiden Arbeiter gilt: je weniger Schnee, desto weniger Arbeitsstunden am Skilift, um ihr als Bauern erzieltes Einkommen zu verbessern. Doch er habe berufliche Alternativen, sagt der eine. So sei es, meint der andere. Sie steigen auf den Schneetöff und fahren zum nächsten Mast.

Fast alle der rund 120 Bauern in der Gemeinde Diemtigen haben einen solchen Nebenjob. Viele verdienen sich ein kleines Zubrot beim Strassenunterhalt. 130 Kilometer durchziehen das Tal mit seinen verzettelten Siedlungen. 60 Meter für jeden der rund 2200 Einwohner. Obwohl der Kanton für Bau und Unterhalt der breiten Hauptstrasse zuständig ist, ist der Strassenunterhalt ein gewichtiger Posten im Gemeindebudget. Mehr sparen gehe nicht, sagt Gemeinderatspräsident Martin Wiedmer (SVP) am Telefon. Die Strassen sind die Lebensadern des Tals. Geräumt und grau durchziehen sie die Winterlandschaft.

60 Meter Strasse pro Einwohner.

Sechsmal fährt auch das Postauto ins Tal. Die meisten der Bäuert genannten Dörfer liegen nicht an der Route. Diese führt den wilden Bächen Chirel und Fildrich entlang zur Grimmialp – und wieder zurück. Zweimal 15 Kilometer, 700 Meter Höhenunterschied. Im grossen Bus sind im Schnitt etwas mehr als sechs Sitze besetzt – auf dem bestfrequentierten Streckenabschnitt unten bei Oey. Oben sind es weniger.
Die vierjährige Konzession durch den Kanton läuft bald aus. Gemäss Postauto Schweiz will der Regierungsrat das Angebot aber für weitere vier Jahre erhalten. Dies obwohl die Kostendeckung unterhalb der verlangten 20 Prozent liegt. Der Rest zahlt der Kanton. Doch Politiker Wiedmer möchte mehr – er setzt sich für einen Ausbau der Postautokurse ein. Vor allem für solche am frühen Morgen. Für die Lehrlinge und Arbeiter.

«Hier haben doch alle ein Auto», sagt Marc Jenzer und lacht. Der junge Mann führt mit seiner Familie die Bäckerei im Ortsteil Zwischenflüh. Vor der Tür stehen filzige Überschuhe, damit die Bauern mit ihren Stallstiefeln keinen Dreck ins Geschäft tragen. Mit seinen geschminkten Augen, dem geflochtenen Bockbart und den Gothic-Kleidern ist Jenzer ein Exot im Diemtigtal. «Lange wurde ich nicht akzeptiert», sagt der Zuzüger aus Belp. Doch es gefällt ihm hier. «Mit dem Auto bin ich in weniger als 30 Minuten in Thun – also auch im Spital», sagt der Inhaber einer Saisonkarte des SC Freiburg – jener in Süddeutschland. Wer nach einer Randregion suche, sei hier am falschen Ort.

Zahlen der kantonalen Finanzdirektion zeichnen ein anderes Bild: Die Gemeinde erhält aufgrund ihrer geografischen Lage jährlich 1,7 Millionen Franken aus dem Finanzausgleich. Insgesamt erhält die Gemeinde fast 3 Millionen – was fast die Hälfte des Budgets ausmacht. Dies sei wichtig, sagt Martin Wiedmer. Um der Entvölkerung entgegenzuwirken, müssten Bund und Kanton aber auch von den beschlossenen Verschärfungen bei der Raumplanung absehen, auch wünschte er sich mehr Geld von der Wirtschaftsförderung.

«Die Menschen kaufen lieber im Denner unten im Tal ein.»

Wo Jenzer heute sein Brot backt, befand sich einst die Post. Von dieser ist einzig eine Postagentur, ein gelb gekennzeichneter Ecken vis-à-vis der Brottheke übrig geblieben. Hier könne man fast alles erledigen, was man auch in einer Post könne, wirbt Jenzer. Die Diemtigtaler sind skeptischer – «unsere Post» ist jetzt unten in Oey. Jenzer führte einst auch andere Lebensmittel – auf Wunsch der Einheimischen. Die Produkte seien aber in aller Regel bis zum Erreichen des Ablaufdatums im Gestell geblieben. «Die Einheimischen kaufen lieber in Oey im günstigen Denner ein.» Jenzer tönt ernüchtert. Nun hat er ein kleines Tea-Room eingerichtet – für die Touristen. Das mächtige Wandbild zeigt einen Fluss, eine Blumenwiese. Den Stadtpark in einer unbekannten Grossstadt. Damit die Ausflügler kämen, brauche es Schnee, sagt Jenzer.

Es gibt im hinteren Diemtigtal nur noch einen einzigen Lebensmittelladen. Der zweitletzte schloss im letzten Jahr – die laut Wiedmer «intensive Suche» nach Nachfolgern blieb erfolglos. So war es auch, als der Dorfarzt vor wenigen Jahren in Pension ging. Bereits seit vierzig Jahren führt Margrit Neukomm das Gasthaus Gsässweid in Sichtweite des Skilifts Springebode. Es sei nicht einfacher geworden. Mit der mangelnden Unterstützung aus dem Flachland habe das nichts zu tun. Im Gegenteil: «Ohne die Ausflügler geht es nicht.» Doch ohne Schnee käme einfach niemand, sagt Neukomm vor ihrem Lokal. Die Sonne wärmt die Terrasse angenehm. Der Schnee tropft von den Dächern. Am nächsten Tag geht die Wintersaison des Gasthofes los. Um auch im Sommer mehr Gäste herzuholen, habe man einen Wanderweg vom Niesen her gebaut. Doch da es keinen Kursbus gibt, müssten die Wanderer anschliessend per Privatauto ins Tal gefahren werden. «Solche Sachen sind es, die es uns hier schwer machen.» Den Fahrdienst übernimmt die Schwiegertochter. Diese lebt mit Neukomms Sohn – «ohne Spital in Erlenbach würden er und ich heute nicht mehr leben» – und den beiden kleinen Kindern im neu gebauten Haus nebenan.

Ob das junge Ehepaar an eine Zukunft des Tales glaubt? Schwiegermutter und Wirtin Neukomm überlegten lange: «Darüber haben wir noch gar nie gesprochen.»

Text, Video und Umsetzung: Basil Weingartner
Bilder: Adrian Moser, Basil Weingartner

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