Letztes Jura-Gefecht in der Arbeiterstadt

Bern oder Jura? Moutier ringt nach Jahrzehnten des Streits erneut um die eigene Identität. Am 18. Juni stimmt das Volk der Kleinstadt über einen Kantonswechsel ab.

Diesmal soll der Entscheid, der knapp ausfallen dürfte, endgültig sein.

Das Verdikt an der Urne wird, so hofft man, auch den Jurakonflikt beenden.

Die Kopie des Denkmals übersteht, wie nicht anders zu erwarten war, bereits die erste Nacht nicht. Die berntreue Jugendorganisation Sangliers («Wildschweine») hatte eine Kopie der Stele aufgestellt, die an den Burgrechtsvertrag von 1486 zwischen der Randregion Moutier-Grandval und dem mächtigen Stadtstaat Bern erinnerte – am nächsten Morgen ist sie vom Sockel gestürzt. «Die Separatisten zeigen keinen Respekt vor unseren Denkmälern», ärgert sich Patrick Röthlisberger, FDP-Stadtparlamentarier und Sprecher des Komitees Moutier-Prévôté, das gegen den Wechsel von Moutier zum Kanton Jura kämpft.


Patrick Röthlisberger zeigt ein Bild der zerstörten Stele, die an den Vertrag von 1486 mit Bern erinnerte.

Willkommen in Moutier! Der Stadt mit 7700 Einwohnern, in der man seit den 1970er Jahren darüber streitet, ob man zum Kanton Jura oder zu Bern gehört. Und wo man sich am 18. Juni nun an der Urne entscheiden muss. Endgültig. Denn die Gemeindeabstimmung ist Teil des Prozesses, den die Kantone Bern und Jura vereinbart haben, um den Jura-Konflikt ein für alle Mal zu beenden. Doch, darin sind sich die verfeindeten Lager für einmal einig, das Abstimmungsresultat dürfte knapp ausfallen.

Das Misstrauen ist gross. Die Projurassier werfen dem Kanton Bern Desinformation vor. So sieht man in einer falschen Zahl zum Steuerertrag von Moutier, für die der Kanton sich jüngst entschuldigt hat, «eine staatliche Lüge». Den Projurassiern sei nicht zu trauen, findet dagegen Röthlisberger. «Die Separatisten werden eine Abstimmungsniederlage nicht akzeptieren.»

Die Anhöhe von Moutier ist fest in bernischer Hand. Das zeigt auch die Berner Fahne auf dem Gebäude der kantonalen Verwaltung.

Im Hôtel de Ville unten im Stadtzentrum hingegen regieren seit den 1980er-Jahren die projurassischen Parteien.

Die Spaltung von Moutier ist auch im Stadtbild ablesbar. Die Anhöhe ist fest in bernischer Hand. Im Schloss sind kantonale Verwaltungsstellen einquartiert, im Gebäude daneben das Kreisgericht. Ein riesiges Wandgemälde am Gericht erinnert – hier unbeschadet – an den Burgrechtsvertrag mit Bern. Die reformierte Kirche, deren Gläubige im einstigen katholischen Fürstbistum jahrhundertelang unter dem Schutz Berns standen, sowie die Polizeistation und das Gefängnis runden das bernische Ensemble ab. Noch weiter oben, ebenso markant, wenn auch weniger malerisch, steht das Spital. Die Arbeitsplätze in Verwaltung und Spital sind ein Hauptargument für die Gegner eines Kantonswechsels, welche die pragmatischen Vorteile eines Verbleibs bei Bern betonen.

Im Hôtel de Ville unten im Stadtzentrum regieren dagegen seit den 1980er-Jahren die projurassischen Parteien. Aktuell stellen sie 6 von 9 Mitgliedern des Gemeinderats. Bürgermeister Marcel Winistoerfer (CVP), der Nachfolger des charismatischen Autonomisten Maxime Zuber, empfängt gerade eine projurassische Delegation. Sie überbringt eine Protestpetition gegen die «Instrumentalisierung» des Spitals durch die probernische Abstimmungspropaganda. Diese setze Spitalpersonal und Patienten unter Druck. In der Tat hat der Verwaltungsrat der Betreibergesellschaft Hôpital du Jura bernois gewarnt, er fürchte bei einem Kantonswechsel «um die Zukunft des Unternehmens». Richtig ist aber auch, dass die Zusicherungen des Kantons Jura bezüglich Spital vage sind: Man werde ihm nach einem Kantonswechsel «spezifische Aufgaben zuweisen, um es zu stärken», heisst es offiziell.
Über die Intervention der Spitalleitung ärgert sich auch der Bürgermeister.

«Das gibt jenen Nahrung, die das Abstimmungsresultat anfechten könnten», sagt Winistoerfer. Hat sein Gegner Röthlisberger also recht, wenn er unterstellt, dass die Projurassier eine Abstimmungsniederlage nicht akzeptieren würden? Winistoerfer bestreitet dies. Er betont aber auch, dass bei einem Nein zum Kantonswechsel «viele Leute, auch ich, sehr enttäuscht wären». Für ihn stehe fest: «Moutier gehört zum Jura. Punkt.» Einen späteren neuen Anlauf will er nicht ausschliessen. Es werde jedoch, räumt er ein, nach einem Nein «lange dauern, vielleicht 30 Jahre». Er jedenfalls wäre dann nicht mehr dabei. «Nach einem Nein würde ich die Amtszeit beenden, aber nicht erneut kandidieren.»

Bürgermeister Marcel Winistoerfer (CVP) befürwortet den Wechsel seiner Stadt zum Kanton Jura.

Die Protestpetition gegen die «Instrumentalisierung» des Spitals durch probernische Propaganda stösst darum bei Winistoerfer offene Ohren.

Heimatgefühle auf beiden Seiten

Der überzeugte Jurassier Winistoerfer weiss aus der eigenen Familie, wie man ein solcher werden kann. Sein Vater, ein zugezogener Solothurner, entwickelte sich in Moutier, ebenfalls als CVPler, zu einem der führenden Köpfe der projurassischen Bewegung. «Der Kanton Jura ist eine Heimat, die man hoch schätzt», sagt sein Sohn. Dass die Bernjurassier, die doch ebenfalls in den Juratälern leben und Französisch sprechen, dies anders sehen, könne er nicht verstehen, räumt Winistoerfer ein. «Das sind Berner, die Französisch sprechen.»
Dieser Definition würde Röthlisberger wohl nicht widersprechen, zumal er trotz Heimatort Langnau – und anders als Winistoerfer – keinen Deutschschweizer Dialekt spricht. «Wir Bernjurassier gehören zur französischsprachigen Region des zweisprachigen Kantons Bern», sagt er. Dieser spiele in der Schweiz eine Brückenrolle zwischen Romandie und Deutschschweiz. Bern habe die Region stets beschützt, schon lange bevor sie 1815 formell zum Kanton kam. Solche Identitäten sind im Kern nicht verhandelbar, was die Intensität des Streits um die Kantonszugehörigkeit erklärt.

Die Fabrik von Tornos ist der wichtigste Arbeitgeber in der Stadt.

Moutier ist mit einem Anteil von über 50 Prozent Industriearbeitsplätzen eine ausgeprägte Arbeiterstadt.

Nur alte Kämpfer am Freiheitsfest

Doch nicht für alle in Moutier ist die jurassische oder bernjurassische Identität gleich wichtig. Moutier ist mit einem Anteil von über 50 Prozent Industriearbeitsplätzen eine ausgeprägte Arbeiterstadt. Vor der Tornos-Fabrik, dem grössten Arbeitgeber, winken viele ab, wenn man sie auf die Abstimmung anspricht. Weil sie Italiener sind oder ausserhalb von Moutier wohnen etwa. Oder weil sie die Sache nicht gar so ernst nehmen. «Man ödet uns schon viel zu lange mit diesem Thema an», sagt einer, der bei Tornos arbeitet, aber im Kanton Jura wohnt. Viele seiner Arbeitskollegen seien aber «mit Klauen und Zähnen Proberner». Manchmal singe er ihnen, um sie zu necken, die «Rauracienne» vor, die Kantonshymne des Juras.

Gesungen wird die «Rauracienne» natürlich auch am Freiheitsfest der jurassischen Bewegung am 20. Mai in Moutier, hier allerdings mit kampfbetonter Inbrunst. Auffallend ist allerdings, wie bejahrt das Publikum in der brechend vollen Festhalle ist. Die Moutier-Abstimmung, so scheint es hier, ist das letzte Gefecht der alten Jura-Kämpfer.

Moonliner spricht für Bern

Direkt um die Hausecke, in der Lounge Bar, sieht man dem Abend in Moutier weniger enthusiastisch entgegen. An einem Plastikstehtisch vor dem Lokal raucht Sandrine eine Zigarette: «Hier ist die Landschaft schön, aber es ist nicht gut, um Partys zu feiern», sagt sie. Die 20-Jährige fährt heute mit ihrem Freund nach Biel. Dort gehe sie meistens hin, wenn sie feiern wolle. «Als ich jung war, war hier noch mehr los», sagt sie. Vor zwei Jahren schloss in Moutier die letzte Diskothek. Seither sei der Bahnhof einfacher zu reinigen, sagt der Mitarbeiter der SBB-Reinigungstruppe. Letzten Sommer hat das alternative Kulturzentrum Pantographe aufgegeben. Tornos benötigte das zwischengenutzte Fabrikgebäude als Betriebskantine. Trotz Petition und Demonstrationen erhielt der Kulturbetrieb Pantographe keine Unterstützung der Behörden, zu wichtig ist Tornos als grösster Arbeitgeber. Da auch keine andere passende Liegenschaft gefunden werden konnte, ist das Kollektiv nun über die Kantonsgrenze nach Delsberg umgezogen und damit jede alternative Kultur aus Moutier verschwunden. So schreiben es zumindest die Leute vom Pantographe auf ihrer Webseite.

Biel oder Delsberg? Oder anders gefragt: Bern oder Jura? Um auszugehen, ist für Sandrine, die Mädchen an der Bushaltestelle und auch die Jungs vor dem Denner die Sache klar: Biel ist lebhafter, dort sei mehr los, sagen sie. Gespalten sind die Meinungen hingegen zur Abstimmung am 18. Juni.

Maxime, einer der Jungs, würde Nein stimmen. «Der Moonliner würde sonst nicht mehr bis nach Moutier fahren», sagt er. Dies habe er zumindest gehört. Matthis hat keinen konkreten Grund, er sieht sich einfach als Berner. Oder ist es gar, weil seine Eltern für einen Kantonswechsel votieren werden? Die Mädchen hingegen möchten gerne Jurassierinnen werden. «Das ist zwar vielleicht von den Steuern her gesehen nicht so schlau», sagt die eine. «Der Jura ist zwar nicht reich, aber man schaut zueinander», sagt die andere. Wenn man in Neuenburg oder Biel studieren wolle, erhalte man vom Kanton Jura eher und mehr Stipendien als vom Kanton Bern. Ob pro Jura oder pro Bern – die Jugend in Moutier scheint ihre Entscheidung pragmatisch zu begründen. Einigen ist der Ausgang der Abstimmung gar egal: «Ich lebe sowieso bald in Biel», sagt Sandrines Freund.

Die Ratten der SVP

Dennoch: Der Abstimmungskampf wird hart geführt. Den Tiefpunkt des politischen Stils liefert bisher die bernjurassische SVP mit einem Plakat, das vor allem im Internet zu sehen war, das aber dennoch in aller Munde ist: Es zeigt einen mit Ratten bevölkerten Kanton Jura, aus dem Arme gierig nach Moutier greifen (die Ratten seien bloss Mäuse, beschwichtigte die SVP). Die FDP von Moutier zeichnet den Kantonswechsel auf ihren Plakaten als verantwortungsloses Pokerspiel, während das breiter aufgestellte Komitee Moutier-Prévôté, das von den lokalen Sektionen der SVP bis zu jenen der SP reicht, die Vorzüge des Verbleibs bei Bern gegen die Nachteile des Kantonswechsels aufrechnet.



Mit Positivbotschaften und vielen lokalen Persönlichkeiten, welche die Hände zu einem Herz formen, wirbt die Ja-Seite für eine «gemeinsame neue Zukunft» im Jura. Das Argument des Herzens hat sie in der Stadt, die seit Langem mehrheitlich projurassisch wählt, auf sicher. Gefährlicher ist für die Pro-Seite das Argument der Gegner, dass die Vernunft eben doch für den Verbleib bei Bern spreche. Man kontert dies mit der Parole «le coeur a ses raisons» («Das Herz hat seine vernünftigen Gründe»).

Es ist ein asymmetrischer Abstimmungskampf. Würden nur jene Stimmberechtigten entscheiden, die üblicherweise abstimmen, stünde das Ja fest. Doch es ist eine sehr hohe Stimmbeteiligung zu erwarten, und beim schweigenden Teil der Stadtbevölkerung könnten die Bedenken gegen den Kantonswechsel auf fruchtbaren Boden fallen.

Der Alptraum des Projurassiers

«Wir haben hier zwei Gruppen pro Bern und pro Jura, wenn man sich nicht einer von diesen anschliesst, gehört man nicht dazu», sagt der Uhrenmechaniker Pascal Reymond, der mit zwei Freunden in der Bar Papillon sitzt. «Die Jurassier sind allerdings generell aktiver als die Proberner, sie haben mehr Freude am gemeinsamen Engagement.» Dies merke man auch in Vereinen, im Sport- und Kulturbereich. Reymond will für den Wechsel zum Kanton Jura stimmen, «weil wir französisch sprechen und es für uns im Jura auch administrativ einfacher wird als in einem fast komplett deutschsprachigen Kanton». Allerdings hat er schon geträumt, dass seine Seite die Abstimmung wegen 300 Stimmen verlieren werde, «es war ein Alptraum», sagt er.

«Wir sind froh, wenn es endlich vorbei ist», sagt die junge Mutter im Restaurant nebenan. Sie und ihr Mann würden sich bei der Abstimmung vom 18. Juni «gegenseitig neutralisieren», sagt sie. Aber nein, der Familienfriede sei deswegen nicht in Gefahr. «Das sehen wir dann am 19. Juni», sagt ihr Mann – und lacht. Sicher ist: Die Zeit nach der Abstimmung wird schwierig werden in Moutier. Knapp die Hälfte der Stimmenden dürfte zu den Verlierern zählen und bitter enttäuscht sein.

Nicht alle beteiligen sich am Abstimmungskampf in Moutier.

«Wir haben in Moutier dringendere Probleme», sagt Manuel Gsteiger, Lokalpartei Interface.

Eine Partei jenseits der Fronten

Vielleicht kommt dann die Stunde der lokalen Partei Interface, die sich als einzige Kraft dem Lagerdenken in der Jurafrage entzieht – und keine Stellung zum Streitpunkt Kantonszugehörigkeit bezieht. «Wir haben dringendere Probleme», sagt Parteipräsident und Gemeindeparlamentarier Manuel Gsteiger. So etwa die schlechte Lage der Stadtfinanzen. Moutier müsse zudem mehr in seine Entwicklung investieren, insbesondere auch in erneuerbare Energie und umweltfreundliche Mobilität. Allzu oft würden Lösungen durch den Grundsatzstreit in der Jurafrage blockiert.

Als Ort für das Gespräch hat sich Gsteiger den «Stand» ausgesucht, ein pittoreskes Holzgebäude mit zwei Türmchen am Stadtrand, das einst als Schiessstand diente. «Hier trifft sich die ganze Bevölkerung für Sportanlässe, Konzerte und Familienfeste», sagt Gsteiger. Mehr Gemeinsamkeit für Moutier erhofft er sich nach der Abstimmung vom 18. Juni. «Falls die Sieger nicht zu stark triumphieren und die Verlierer nicht zu viel Bitterkeit zeigen.»

Interface jedenfalls will die Zukunft von Moutier gestalten, egal, ob die Stadt in den Jura wechselt oder bei Bern bleibt. Auf der Hand liegt aber: Bei einem Nein zum Kantonswechsel sind die Chancen der Partei grösser, weil etliche Projurassier, die heute die Stadt dominieren, sich enttäuscht aus der Politik zurückziehen dürften.
Ob die Lokalpartei, die aktuell vier Stadtparlamentarier und eine Gemeinderätin stellt, dann für das Bürgermeisteramt kandidieren würde, sei offen, sagt Gsteiger. «Momentan haben wir keinen Kandidaten», räumt er ein. «Aber vielleicht engagieren sich künftig Persönlichkeiten, welche die Jurafrage bisher von der Politik fernhielt.»

Text: Simon Thönen und Simon Preisig

Fotos: Adrian Moser

© Tamedia