Das Schicksal der Äpfel ist besiegelt

Der Herbst ist da und hat die Süssmost-Saison eingeläutet.

In vielen kleinen Mostereien laufen die Pressen auf Hochtouren – so auch im Seeland bei der Firma Gehri.

Der Kleinbetrieb rentiert, dafür schliesst die letzte Grossmosterei im Kanton Bern.

Im Dachstock-Silo des 64-jährigen Ruedi Gehri riecht es stark nach Äpfeln. Das laute Dröhnen und Rauschen verrät, was mit den Früchten gerade geschieht: Sie werden ausgepresst. Erst zehn Minuten ist es her, seit der Geschäftsführer der Mosterei an diesem Freitagmorgen seine Obstpresse eingeschaltet hat – und schon rinnt der Saft wie ein Wasserfall aus der Maschine. Noch zweieinhalb Stunden dauert es, bis aus den 400 Kilogramm Äpfeln rund 240 Liter Süssmost entstanden sind. Äpfel, die auf dem Weg in die Presse vom Förderband fallen, hebt er auf und legt sie behutsam wieder hin – es gibt kein Entkommen. Keiner dieser grünen, reifen Äpfel wird das Silo von Gehris Mosterei in seiner Ursprungsform verlassen.

Heuer mehr Äpfel als im 2015

Die kleine Mosterei im Seeländer Ort Lobsigen ist in diesem Jahr noch nicht lange in Betrieb. Gestern nahm Gehri erst zum zweiten Mal in dieser Saison Obst von Landwirten und Privatpersonen an. «Dieses Wochenende verarbeite ich circa 4500 Kilogramm Äpfel», sagt Gehri. Das sei doppelt so viel, wie die Menge, die er bei der letzten Obstannahme erhalten habe. Gehri hofft, dass das so weitergeht. Die Obstmenge soll jede Woche zunehmen.

Generell erwartet er heuer mehr und qualitativ bessere Äpfel als im vergangenen Jahr: «Der Sommer war für die Zuckerbildung optimal. Gute Mostäpfel haben einen hohen Zuckergehalt.» Tatsächlich dürfen sich Obstverarbeiter freuen: Der Schweizer Obstverband geht davon aus, dass die Mostäpfelernte im Jahr 2016 um 20 Prozent höher ausfallen wird als die letztjährige Ernte.

Im Bereich Kernobst spiele der Kanton Bern, national betrachtet, nur eine kleine Rolle, sagt Jürg Maurer, Leiter der Fachstelle für Obst, Beeren und Rebbau am Inforama Oeschberg. 80 Prozent der verkäuflichen Menge an Mostäpfeln werde in der Region Ostschweiz geerntet, 9 Prozent in der Region Bern und in der Westschweiz, weitere 9 Prozent in der Zentralschweiz und 2 Prozent in der Region Zürich. Im Kanton Bern gibt es rund 100 Kleinmostereien, die jährlich zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Liter Süssmost herstellen. Gehri verarbeitet pro Saison 30 bis 50 Tonnen Äpfel zu Süssmost oder Apfelwein. Birnen verarbeitet er keine.




«Der Sommer war für die Zuckerbildung der Äpfel
optimal.»

«Dieses Wochenende verarbeite ich zirka 4500 Kilogramm Äpfel»
 –Ruedi Gehri.

Stammkunden sei Dank

«Röbu, du nimmsch ou äs Kafi, gäu?», ruft Gehri einem pensionierten Landwirt zu, der soeben ein Dutzend Harassen mit Boskop-Äpfeln vorbeigebracht hat. Sie kennen sich schon lange. Robert Nobs kommt jedes Jahr: «Anstatt die Früchte verfaulen zu lassen, bringe ich sie hierher.» Pro 100 Kilogramm erhält Nobs 32 Franken. Boskop-Äpfel zählen zusammen mit den Sauergrauech- und Bohn-Äpfeln zu den Spezialsorten in der Region und bringen mehr ein als die gewöhnlichen Sorten. Das ist definitiv das bessere Geschäft, als die Früchte ihrem Schicksal zu überlassen. Für diesen Tag haben sich noch weitere 14 Obstlieferanten angemeldet. Nicht alle verkaufen ihr Obst. Der grösste Teil bringe seine Äpfel zur Verarbeitung und hole danach den Most ab, so Gehri. «Pro Liter Most bezahlt man einen Franken. Dies deckt den Arbeitsaufwand.»

Eine Stunde später trifft ein weiterer Stammkunde ein, der jedoch kein Obst verkaufen, sondern Most kaufen will: «Heschmer zwölf Fläsche Süessmoscht, Rüedu?» Während Gehri am Computer die Rechnung macht, holt seine Ehefrau die abgefüllten PET-Flaschen aus dem Kühlschrank. Ohne Stammkunden würden die Mosterei und überhaupt das ganze Geschäft nicht rentieren. Die Obstpresse läuft nämlich nur am Wochenende. Unter der Woche kümmern sich Gehri und seine Ehefrau um ihren Getränkeladen und um ihre Schnapsbrennerei, die ebenfalls von vielen Stammkunden besucht wird. «Mit dem Betrieb können wir unseren Lebensunterhalt bestreiten.» Selbstverständlich sei das nicht. Schon gar nicht in einer Zeit, in der selbst Grossmostereien, wie diejenige von Pomdor in Kiesen, schliessen. Diese verschwindet 2017 aber. Damit schliesst die letzte grosse Mosterei-Anlage im Kanton Bern.

«Heschmer zwölf Fläsche Süessmoscht, Rüedu?»

In sieben Schritten zum Most

Egal ob 2000 Kilogramm – so viel würden in die Pressmaschine passen – oder 4 Kilogramm, bei Gehri sind alle Mengen willkommen. Sofern die Äpfel gesund sind. «Angefaulte Äpfel nehme ich nicht entgegen», stellt er klar. Im ersten Schritt werden die Äpfel auf einer antiken und geeichten Waage gewogen. Alle zwei Jahre kommt der Eichmeister vorbei und stellt die Waage ein. Die gewogenen Äpfel werden auf ein Förderband geleert, das sie rauf ins Silo im Dachstock bringt. Von dort aus passieren sie in einem zweiten und dritten Schritt die Wasch- und Mahlanlage. Es folgt der Kernschritt: das Pressen. Was bereits sein Vater von Hand mit einer fahrbaren Obstpresse tat, erledigt seit 15 Jahren eine voll automatisierte rund 150 000 Franken teure Obstpresse. Als nächstes kommen das Filtrieren, Abfüllen und Pasteurisieren. Et voilà! Das Schicksal der Äpfel ist besiegelt

Bilder: Franziska Rothenbühler
Text: Liliane Manzanedo
Umsetzung: Gianna Blum

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