Der Westen gibt den Takt vor

Stöckacker, Brünnen oder Europaplatz: In Bern-West werden für die Stadtentwicklung wegweisende Bauprojekte realisiert.

Euphorie bricht deswegen noch nicht aus.

In der Retorten-Siedlung fehlt den Bewohnern der Charme.

Verdichtung zum Anfassen: Die Siedlung Stöckacker-Süd gilt als Berns neuer «Leuchtturm», als «Musterbeispiel für modernen Städtebau», wie Plakate an den Baustellen-Abschrankungen verkünden. Der neuste Bewohner der Minergie-Siedlung heisst Luca Pauciello. Eben hat der junge Bümplizer den Mobility-Transporter ausgeräumt und den Schlüssel für die nigelnagelneue 4-Zimmer-Wohnung erhalten. Er strahlt über das ganze Gesicht: «Die Zimmer sind alle fast gleich gross, der Grundriss ist perfekt für unsere 3er-WG.» Toll findet er auch, dass die 2000-Watt-Überbauung autofrei ist. «Das ist mir als Pfadfinder und Naturfreund wichtig.»

Das Areal an der Bethlehemstrasse gilt als Paradeprojekt für die rot-grüne Wohnbaupolitik: 2013 wurden die hundert alten, aus den 1940er-Jahren stammenden Wohnungen dem Erdboden gleichgemacht. Die Stadt baut bis im Sommer 2017 für 70 Millionen Franken auf der frei gewordenen Fläche eine Siedlung mit 146 Appartements, die von der 1,5-Zimmer-Alterswohnung (Fr. 813.– inkl. Nebenkosten) bis zum 6,5-Zimmer-«Town House» reichen (Fr. 3623.–).

Hermine Friedli steht vor ihrer 2-Zimmer-Wohnung im Haus A der Stöckacker-Überbauung. Die 74-Jährige ist vor zwei Monaten von Thörishaus zurück in die Stadt gezogen. «Es ist schön und gäbig hier. Und bezahlbar», sagt Friedli, während nur wenige Meter weiter ein Intercity vorbeirast und Lastwagen durch die Bümpliz-Unterführung rattern. Ruhiger dürfte es im beengten Innenhof werden – doch dort sind noch die Bauarbeiter am Werk. Die Architekten haben in die Trickkiste gegriffen, um Platz zu sparen: Auf den Balkonen wurden anstelle von Sonnenstoren Vorhänge installiert.

«Es ist schön und gäbig hier. Und bezahlbar»
Hermine Friedli

In Brünnen fehlen Familien

Punkto Stadtentwicklung ist in der letzten Legislatur einiges gegangen. Das Stimmvolk gab grünes Licht für die Überbauung des Viererfelds, des alten Tramdepots Burgernziel und für «dr nöi Breitsch». Die Einwohnerzahl stieg von 137 818 (2012) auf 141 379 (Stand September 2016). Laut dem jüngst veröffentlichten Stadtentwicklungskonzept 2016 sollen bis 2030 zusätzliche 8500 Wohnungen für 17 000 Einwohner entstehen. Wirtschaftsverbände hingegen fordern mehr Gewerbezonen. Vorgesehen ist auch, falls nötig in Brünnen Süd eine neue Überbauung auf der grünen Wiese zu erstellen.

Ennet den Bahngleisen ist der neue Stadtteil Brünnen-Nord praktisch fertig gebaut. Um acht Uhr morgens wirkt das Gebiet völlig ausgestorben. Nach langer Suche erblickt das «Bund»-Reporter-Team endlich eine Menschenseele: Silja Locher schiebt den Kinderwagen vor sich hin, während die Sprösslinge Niklas und Elina auf der Strasse herumtollen. Vor zwei Jahren ist die Familie von der Länggasse in das Retorten-Quartier beim Westside gezügelt. Dank den Kindern habe man hier sofort Anschluss gefunden, auch wenn nicht allzu viele Familien hier lebten. «Brünnen-Park, Shopping, alles ist in der Nähe. Wir fühlen uns wohl hier. Aber die modernen Gebäude gefallen mir nicht. Den Charme der Länggasse vermisse ich», sagt die Walliserin. Die Euphorie hält sich in Grenzen. An der Colombstrasse begegnen wir einer Rentnerin. Mit ihrem invaliden Gatten ist sie 2013 vom Weissenbühl in eine behindertengerechte 3-Zimmer-Wohnung (Fr. 2400.–) gezügelt. Brünnen gefällt ihr nicht: «Alles ist steif und unpersönlich hier. Die Leute grüssen nicht, man findet hier keine Gesellschaft», klagt die rüstige Frau.

Brünnen hat seine Identität noch nicht gefunden. Zahlreiche Bewohner sind Doppelverdiener ohne Kinder. Das wirkt sich auf die Stimmung aus: «Hier herrscht nicht der gleiche Groove wie im Breitsch. Das ist aber auch nicht nötig», sagt Bernardo Albisetti, Präsident der Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem (QBB). Er glaubt, dass sich das Quartier in den nächsten Jahren beleben wird – auch dank der im August eröffneten Volksschule Brünnen. «Mit mehr Kindern werden sich auch die Eltern stärker für die Gemeinschaft engagieren. Das geht aber nicht von heute auf morgen.»

Lebendiges Europaplatz-Ghetto

Eine Durststrecke erlebte Markus Peter am anderen Ende von Bümpliz. Vor zwei Jahren eröffnete er den Pfisternbeck im Haus der Religionen am Europaplatz – einem weiteren Entwicklungsschwerpunkt der Stadt. Im ersten Jahr lief nur wenig. Mittlerweile brummt der Laden: «Früher war das hier ein Ghetto, ein Unort. Jetzt trifft sich hier das Quartier», freut sich der Geschäftsführer des Pfisternbecks, der sogar über eine Whisky-Lounge verfügt. Während des Sommers habe man herausgestuhlt und Pflanzen aufgestellt. Nun stehen sie vor dem Laden für den Abtransport bereit. «Die Stadt sollte den Platz noch mehr begrünen», fordert Peter. Albisetti ist angetan vom «neuen Tor zu Bümpliz». Neuer Fachhochschul-Campus, mehr Wohnungen dank Verdichtung: Die Stadt hat in Ausserholligen noch viel vor. So auch Konditor Peter: «Ein Märit wäre hier toll, das Dach steht ja schon», sagt er und blickt auf die Autobahnbrücke.

Saali-Ost, Springarten oder hintere Schosshalde: Das Wachstum dürfte in den nächsten Jahrzehnten auch die letzten grünen Wiesen Berns erfassen. Das lässt auch Pfadfinder Pauciello nicht kalt. Neue Wohnungen müssten aber nun mal in den Ballungszentren gebaut werden, nur dies stoppe die Zersiedlung. «Wer will schon aufs Land ziehen?», fragt er sich und fährt mit dem Mobility-Transporter davon.

Verwaist: Zu Pendlerzeiten sind in Brünnen die Strassen leer.

Parteien streiten sich um das richtige Rezept für die Stadtentwicklung

Vom Viererfeld bis zum «nöien» Breitsch: RGM und die Bürgerlichen haben sich nicht nur punkto Wohnbau bekämpft.

Die Stadt Bern wächst und wächst seit einem Jahrzehnt – und passt ständig ihre Ziele an. Noch 2010 sagte Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP), bis 2020 strebe man 140 000 Einwohner an. Die Marke wurde aber schon im letzten Jahr erreicht. Bis 2030 will nun die Stadt bereits an der 160 000-Einwohner-Marke kratzen, obschon die Baulandreserven praktisch aufgebraucht sind. Die Mission Stadtverdichtung beschäftigte Bevölkerung und Politik in den letzten vier Jahren bei diversen Wohnbau-Vorlagen. Wachstumskritiker aus dem Umfeld der Gruppe Viererfeld-Nature 2.0 sorgten dafür, dass die Viererfeld-Vorlage selbst im links-grünen Lager alles andere als unumstritten war. Aus der Debatte lässt sich auch eine Haltung der Parteien für kommende Bauprojekte ableiten: Linksaussen-Parteien (GPB) bekämpfen grundsätzlich weiteres Wachstum. SP, GFL und Grüne wollen bei neuen Siedlungen einen möglichst hohen Genossenschaftsanteil durchdrücken. FDP, BDP und SVP unterstützen zwar wirtschaftsfreundliche Bauprojekte – aber nur, wenn genügend Parkplätze eingeplant werden.

Planer an der kurzen Leine

Der Stadtrat hält die Planer beim Viererfeld an der kurzen Leine: Das Parlament überwies im Oktober einen Vorstoss von GB, GLP, GFL und SP. Die Motion verlangt Vorgaben für den anstehenden Wettbewerb auf dem Viererfeld. Die Neubaugebiete sollen mit der Länggasse verschmelzen, Wege und Plätze innerhalb der Überbauung sollen autofrei blieben. SVP wie FDP kritisierten – einmal mehr – das Anliegen von Mitte-links. Der Baubeginn erfolgt frühestens 2023.

Im Wankdorf geht es vorwärts

Viel getan hat sich in der letzten Legislatur im neuen Berner Wirtschaftsviertel Wankdorf-City. SBB und Post haben ihre Konzernsitze von der Grossen Schanze respektive der Schönburg auf das ehemalige Schlachthofareal verlegt. Schon bald soll mehr Leben in das Verwaltungsgebiet kommen. Im Juni haben sich 75 Prozent der Berner Stimmbürger für die Weiterentwicklung des Areals ausgesprochen. Geplant sind ein Hotel, Restaurants, Bars, Läden und 150 Wohnungen. Das Thema Stadtentwicklung betrifft nicht nur den Wohnungsbau. Eine hitzige Debatte entbrannte um das Projekt «Dr nöi Breitsch», welches die Neugestaltung des Breitenrainplatzes sowie die Sanierung und Aufwertung der Achse Viktoriaplatz–Guisanplatz vorsieht. Die Parteien SVP, FDP, BDP stellten sich vehement gegen das «Luxusprojekt». Das Volk sprach sich mit 63 Prozent für die Umgestaltung des Breitenrains aus. Nun nimmt die Stadt die Umgestaltung des «Schandflecks» Waisenhaus-/Bärenplatz in Angriff. Die Achse Bärenplatz–Waisenhausplatz sollte eigentlich schon lange in neuem Glanz erstrahlen. 1988 stimmte das Volk der Umgestaltung der beiden Innenstadt-Plätze zu. Wegen Geldmangels dümpelte das Projekt während 25 Jahren vor sich hin. 2017 soll ein Vorprojekt in den Stadtrat kommen, Baubeginn ist frühestens 2019.

Text: Adrian Müller
Bilder: Adrian Moser
Umsetzung: Gianna Blum

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